Persönliche Erinnerungen und 100 Missverständnisse*Dichter Innenteil

11. Missverständnis: Die jüdische «Mama» ist eine besitzergreifende Drama Queen (Bild: © Rhonda Lieberman Cary Leibowitz; Courtesy of Rhonda Lieberman, photo by The Jewish Museum, NY, Sammlung Patricia A. Bell / Bearbeitung: Jella Jost)

Von politisch unkorrekten Albträumen zu jüdisch-kultureller Aneignung

«Naja – jeder Österreicher hat irgendeinen Juden in der Verwandtschaft!» Das hörte ich mehrfach, wenn ich erzählte, der Vater meines Onkels, Mordechai Jakob, der in der Resistance kämpfte, wurde in ­Ausschwitz ermordet. Ich deutete ­diese verbalen Kommentare als Zeichen von Antisemitismus, der meine Bewältigung herunterspielen wollte, mit Fakten, die so nicht stimmen. Nicht jede: r Österreicher:in hat jüdische Verwandte. Geschuldet meiner Neugier und Scham, musste ich keinen Beschluss fassen, meiner Familiengeschichte persistierend auf den Grund zu gehen, denn es entwickelte sich als etwas Organisches, ja fast Autonomes, das sich wie selbst in mir entblößte. Eine Offenheit und Bereitschaft zur Konfrontation waren dazu nötig. Sie währen bis heute. Das hört nicht auf. Die Missverständnisse über Juden und Jüdinnen tauchen aus den Arealen der Erinnerung immer wieder auf, ähnlich einem Schleiertanz, den ich nur ungern tanze, aber tanzen muss, in ­Abständen, um mich von der grausamen Absurdität dieser Schleier zu ­befreien, in einer Welt, die ich nicht in Worte fassen konnte, die ich als pure Gewalt erlebte, in mir spürte, durch Sprache, Schilderungen der Kriegserlebnisse meines Vaters, als blutjunger 17-jähriger Nazi an der Front. Sein Drang, das Unaussprechliche auszusprechen, und die an mir tatsächlich ausgeführte verbale Gewalt meines ­Vaters sowie die einer ganzen Generation wirken. Sie wirken nach. Heute weiß ich, ja erlebe ich, dass Gewalt ­immerwährend und fortführend ist. In jungen Jahren glaubte ich, dass Gewalt irgendwann einmal ein Ende hätte. ­Lächelnd staune ich über diesen ­Gedanken heute.

Ich bin damit nicht alleine

Es ist ein regnerischer April, kalt, ich laufe über den Graben in Richtung zweiter Bezirk, biege spontan rechts in die Dorotheergasse, kehre vorher nicht bei Trzesniewski ein, um ein Brötchen hübsch appetitlich zu verschlingen, nein, gehe direkt zum Jüdischen Museum und esse ebendort eine vegetarische Suppe als Vorspiel für meine geplante Hingebung.
Da, da ist wieder einer der Schleier, der mir vorgaukelt, es wäre Hingebung anstelle eines Sich-Aussetzens. Ganz ohne Besonderheit. Als Akt reiner Menschlichkeit. Es sollte etwas völlig Normales sein, sich mit Genoziden und der Beteiligung der zugehörigen Nation, der man angehört oder der ­Familie, tiefgehend auseinanderzusetzen. Auch mit der Gewalt um uns und der Bereitschaft dazu in uns allen. ­Natürlich bedeutet sie Schmerz. Und Schmerz gehen wir aus dem Weg. Dem Tod auch. Der Grausamkeit auch. Denn das kostet. Hinsehen kostet seelische Kraft. Sehr genau hinsehen aber bewahrt vielleicht. Es gibt eine Möglichkeit, damit konstruktiv umzugehen. Dazu dient zum Beispiel die derzeitige Ausstellung im Jüdischen Museum Wien 100 Missverständnisse über und unter Juden. Eine große Empfehlung meinerseits. Ich habe mich bei einigen grundlegenden Betrachtungen und Beobachtungen selbst erwischt. Eine davon heißt: Das Verstehen des jüdischen «Schicksals», beziehungsweise meine familiäre als auch künstlerische Auseinandersetzung damit (dazu komme ich später), macht mich selbstverständlich zu ­einem besseren Menschen. Tut es nicht. Meine ererbten, nebelhaften, nicht zu fassenden Schuldgefühle sind zwar passé und aufgearbeitet, was nicht heißt, dass ich nicht weiterhin Irrtümern anheimfalle. In meiner ­Arbeit am Schauspielhaus bei Der ­Familientisch oder bei der Erarbeitung und den Kompositionen der Texte Fritz Kalmars, als auch in einem großen Projekt mit Musikern der Roma, glaubte ich mich auf dem richtigen und gerechten Weg. Ich könnte nicht behaupten, dieser Weg sei falsch gewesen, nein, aber ich könnte behaupten, mich bewusst geistig-emotionalen Prozessen ausgesetzt zu haben, die mir Außerordentliches abverlangt haben, die das Bild meiner Eltern weiter verdunkelten und zum Teil auch das meiner Verwandtschaft. Das stellte sich viel später als unwahr heraus, als ich die mit Schreibmaschine verfassten Dokumente der Nazis an meinen Großvater, auf meine Recherche hin, aus dem Bundesarchiv Deutschland per Post erhielt sowie die Einvernehmungsprotokolle, in denen zahlreiche Arbeiter:innen und Zwangsarbeiter:innen seiner Firma durchwegs positive Aussagen über meinen Großvater kundtaten. Die ­Nazis wollte seine Firma dicht ­machen und meinen Großvater verhaften, weil er laut Nazis zu freundlich, wohl zu human mit den Arbeiter:innen verfuhr. Er wurde nach dem Krieg vor ­Gericht rehabilitiert. Ich sollte lernen, dass jene historische Zeit mich nicht direkt betraf, sondern ein Teil meines Erbes ist, aber bei Gott nicht meine Identität. Mein potenzieller Anteil an Missverständnissen zeigt sich eher als ein zutiefst intimer persönlicher ­Faden eines weltweiten Netzes, das ich erst heute zu entdecken in der Lage bin und das mich in seiner Subtilität und Unsichtbarkeit erschüttert, weil ich weiß – ich bin damit nicht alleine. Das bereitet mir Unbehagen.

Gegeneinander ausgespielt

Ich kann nicht behaupten, ich wäre Antisemitin, noch habe ich jedweden Irrtum über Juden und Jüdinnen in mir entdeckt, behandelt und aus meinem System rausgespült. Behandlungsmethoden: Schreiben, Lesen, Sprechen, partizipative Theaterformen. Es folgt daher: «Missverständ­nisse über Jüdinnen und Juden ­sagen oft mehr über den jeweiligen Zeitgeist aus als über diese selbst. ­Manche dieser Missverständnisse werden vergessen und sind möglicherweise ein Jahrhundert später gar nicht mehr nachvollziehbar. Andere entwickeln sich neu, werden ­populär oder bleiben nur in einem ­speziellen ­Umfeld ­bekannt. Auch wenn sich ­einige Missverständnisse hartnäckig über ­einen langen Zeitraum halten, treten sie meist in verschiedenen Abwandlungen auf» lese ich in dem dazugehörigen spannenden Katalog. Die beeindruckendste künstlerische Arbeit in dieser Ausstellung stammt von der amerikanisch-israelischen ­Künstlerin Andi Arnovitz: sechs ineinander rotie­rende rot-weiße Kreise, auf ­denen sich Begriffe wie Gender, Religion, politische Einstellung und allerlei Bewertungsbegriffe ­finden. Der vorletzte Kreis mit einem ungefähren Durchmesser von einem ­Meter vierzig, ist versehen mit – flapsig gesagt – toxischen Schlagwörtern, die häufig dazu verwendet werden, den gegenteiligen Standpunkt zu desavouieren. Es ist ein spielerisch-unterhaltsamer, aber auch bitterer Aufruf die Woke-Kultur kritisch zu betrachten. Zum ­Judentum finden sich Begriffe wie jewish, ­zionist, post-zionist. Andi Arnovitz ­beleuchtet damit den Irrtum, ­Juden und ­Jüdinnen mit Israelis und Israelis mit ­israelischer Siedlungspolitik gleichzusetzen. Natürlich sind ­Juden und ­Jüdinnen bei weitem nicht die einzigen, über die Missverständnisse in Umlauf sind. In oben beschriebener künstlerischer ­Arbeit wird durch die zahlreichen Kombinationsmöglichkeiten von Begriffen und Zuschreibungen deutlich, dass jede Identität oder Überzeugung, ja jedes sogenannte Missverständnis (nirgendwo ist von Vorurteil zu lesen, das finde ich sprachlich-gedanklich faszinierend) potenziell politisch instrumentalisiert und dämonisiert werden kann.

Philosemitismus – bunter Ballon

Ein besonders herausragendes Missverständnis ist der Philosemitismus. Er ist die unkritische Liebe zu ­Juden und Jüdinnen, allein deshalb, weil sie sind, was sie sind. Da tragen zum Beispiel kahlrasierte Männer auf ­ihren schwarzen Jacken Reichsadler und die Aufschrift in gotischen Lettern: «­Judenfreund». Es gibt Menschen, die davon besessen sind, lese ich. Ihre ­absurde «Liebe» fungiert als grotesker Versuch einer «Wiedergutmachung» der Gräuel des Holocaust; eine Haltung, die zum Scheitern verurteilt ist. Letztendlich wird alles gutgeheißen, was «jüdisch» heißt, auch die Besatzungspolitik Israels, lese ich im Katalog. Die Intention dahinter ist aufschlussreich. Ist man nur am persönlichen «Wohlgefühl» interessiert oder an historischer Wahrheit und Involviertheit? Will man einfach nur schnell etwas «erledigen», was eine:n belastet oder Schuldgefühle ­erzeugt, die sich gar so unangenehm anfühlen? Die Show der vermeintlichen Auseinandersetzung wird zur absurden Verzerrung dramatisiert, wie ein buntes Spektakel, das man inszeniert, wie man es nur selbst für richtig hält. Die Auseinandersetzung mit Missverständnissen als Farce? Oder ist das Missverständnis doch schon Antisemitismus? Ich gebe keine Antworten.

*In Zusammenhang mit der laufenden Ausstellung im Jüdischen Museum Wien