Personalabbau bedroht Medienpluralismustun & lassen

Wenn Marjah eine Stadt ist, ist Grammatneusiedl New York

Wer einen Krieg im Zeichen der «Humanität» führt, muss zuerst den Kampf um die öffentliche Meinung gewinnen. Die Gewinnchancen sind groß, weil dem militärisch-politisch-industriellen Komplex die Gegen-Player in Form von unabhängigen Medien zunehmend abhanden kommen. Das Märchen von der Stadt Marjah im Süden Afghanistans sagt einiges aus über die reale Situation der Publizistik auch der österreichischen.Es sehe so aus, als ob die großen Zeitungsverlage die Wirtschaftskrise zu einem guten Stück für ihre Zwecke instrumentalisieren, meinte der Dortmunder Medienexperte Horst Röper kürzlich. Die Gelegenheit scheine günstig, Personalkosten zu reduzieren, um so die Rendite der Verlagshäuser zu erhöhen. Die Geschäftsführer großer Verlage interessieren sich mehr für Gewinnmaximierung als für das journalistische Produkt. Dass dieses Denken nicht folgenlos für den Zeitungsjournalismus bleibt, ist für den Medienwissenschaftler klar. Mit immer weniger Personal gehe die Pluralität der Berichterstattung verloren. Die Zeitungen werden inhaltlich einander immer ähnlicher, weil die reduzierten Redaktionen nicht mehr die Kapazität haben, um selbständig zu recherchieren. Zunehmend stammen die journalistischen Beiträge konkurrierender Medien aus derselben Agentur bzw. aus derselben PR-Quelle. In den Redaktionen verbreitet sich die Angst, von weiteren Einsparungswellen betroffen zu werden. Die Angst führt zu anpasslerischem Verhalten. JournalistInnen mit ursprünglich kritischem Anspruch nehmen ihre Vorsätze, in ihrer Arbeit möglichst autonom zu bleiben, zurück.

Eine Medienlandschaft, die wie die österreichische zum guten Teil von einer einzigen Finanzgruppe kontrolliert wird, nämlich von den Raiffeisen-Oligarchen, bräuchte souveräne Schreiberinnen und Schreiber besonders dringend. Je mehr sie verschwinden, desto mehr wird ein unabhängiger Journalismus als Faktor des zivilgesellschaftlichen Gegengewichts zu den eskalierenden Entdemokratisierungsprozessen zur Illusion. Wirklich unabhängige, weil nicht erpressbare Medien wie der Augustin scheinen eher als Überbleibsel aus einer Zeit relativer Meinungsvielfalt definiert werden zu können; die Vorstellung, dass der Augustin die Kombination von redaktioneller Autonomie, journalistischer Qualität und sozialer Orientierung als berufsethisches Zukunftsszenario vorwegnimmt, ist zu schön, um wahr zu werden.

Die Konstruktion einer Stadt namens Marjah

Wohin der allgemeine Abbau journalistischer Souveränität führt, zeigte im Februar der «Fall Marjah». NEWS berichtete am 9. 2. 2010 von der Großoffensive der US-Truppen und ihrer Verbündeten in der südafghanischen Provinz Helmand: «Die Angriffe richteten sich gegen Marjah, die größte von den Taliban beherrschte Stadt in der Region mit rund 80.000 Einwohnern.» Die Kronen Zeitung vom 14. 2. 2010 bearbeitete dieselbe Quelle: «Mit rund 80.000 Einwohnern war Marjah bis dato die größte Stadt in der Hand der Taliban und damit das erste Ziel der am Samstag gestarteten Offensive.» Sie zitiert dann US-Brigadegeneral Lawrence Nicholson: «Wir werden Marjah den Taliban wegnehmen.» Das könne zu einer grundlegenden Veränderung in ganz Afghanistan führen. Auch für den britischen Brigadegeneral James Cowan sei der Fall Marjahs ein Wendepunkt: Die Operation werde den «Anfang vom Ende des Aufstands markieren.»

Die Presse vom 21. 2. 2010 über die NATO-Mega-Offensive: «Vor allem die Rebellenhochburg Marjah ist heftig umkämpft.» Doch die regulären afghanischen Polizisten hätten schon das Stadtzentrum gesichert. Der Standard lässt den Westen am 25. 2. 2010 triumphieren: «Über der einstigen Taliban-Hochburg Marjah weht die afghanische Flagge. Knapp zwei Wochen nach Beginn der von der NATO gestützten Großoffensive Mushtarak gegen die Islamisten in der südafghanischen Provinz Helmand haben das Militär und die afghanischen Behörden offiziell die Kontrolle über die größte Stadt der umkämpften Region übernommen. Bei einer Zeremonie mit Vertretern der afghanischen Armee und der Internationalen Schutztruppe ISAF hissten Regierungsvertreter am Donnerstag die Nationalflagge über der Bezirkshauptstadt Marjah.»

Die Fotos, mit denen alle diese Nachrichten illustriert wurden, zeigen ausschließlich allein stehende bäuerliche Lehmhütten. Auf dem vom Standard verwendeten Agenturfoto flattert tatsächlich die Nationalflagge. Sie ist auf einer Lehmhütte gehisst worden. Nirgends ein Anzeichen von Urbanität. «Nun wird es Sicherheit, Arbeit und Regierungsführung geben», zitiert das Blatt der liberalen Gebildeten einen Politiker aus der «Stadt Marjah». Einige österreichische Medien muten der «Hauptstadt Helmands» sogar 125.000 Einwohner zu. Der ORF suggerierte einen Kampf von Häuserblock zu Häuserblock, bis endlich 600 afghanische Polizisten «ins Stadtzentrum vordrangen.»

Einsame Stimmen der Skepsis sind nicht aus den Redaktionen zu vernehmen. Sie wurden von außen an das Standard-Onlineforum herangetragen: «Hier also, im Zentrum der Stadt, weht die siegreiche Flagge. Weiß wer ein link, wo man mehr sieht als eine Mauer und herumeilende Soldaten? Diese eine Mauer scheint das Highlight aller TV Aufnahmen in 50 Km Umkreis zu sein und ist seit einer Woche auf allen Aufnahmen zu sehen. Sicherheitshalber verschwommen auf diesem Foto in der Landschaft. In allen 35 weiteren Fotos ist nicht eines, das auch nur annähernd eine Stadt zeigt, und selbst ein Dorf ist nur mit sehr viel gutem Willen bei Foto 15 auszumachen. Naja, vermutlich ist das eine ganz gefährliche und geheime Mission, von der niemand was sehen darf.»

Briefing im Camp Leatherneck

Der unbekannte User oder die unbekannte Userin erweist sich als solitärer Hero der Logik und der Rationalität. Die Chefredaktion fühlte sich ertappt und denunzierte die KritikerInnen des manipulativen Journalismus als Apologeten einer «Verschwörungstheorie» eine scheinbar intellektuelle Stigmatisierung nonkonformistischen Wahrnehmens, die ein Durchdenken der vorgebrachten Einwände von vornherein ausschließt. Der Standard greift die Aufforderung der KritikerInnen, nicht auf Eigenrecherchen zu verzichten, auf und kommt zu Resultaten, die exakt denen der «Verschwörungstheoretiker» entsprechen. Er zitiert den deutschen UNO-Entwicklungshelfer Thomas Ruttig: Marjah sei «bestimmt keine Stadt», sondern bloß eine Ansammlung von Lehmhütten. Als einzige Quelle, die die Standard-Darstellung «größte Stadt der Region» stützt, wird das «Institute for the Study of War» genannt. Diese Institution, die im Internet unter der vielsagenden Adresse www.understandingwar.org präsent ist, zählt jedoch, was der Standard verschweigt, zum Think-Tank des US-Militarismus. Es hätte gereicht, das «About us» der Website anzuklicken: We are committed to improving the nations ability to execute military operations and respond to emerging threats in order to achieve U. S. strategic objectives. Das Institut fühlt sich der Verbesserung der militärischen Handlungsfähigkeit verpflichtet, um die Nation im Auftrag ihrer strategischen Zielstellungen zu einer Antwort auf die Bedrohungen der Zukunft zu befähigen. Eine Selbstzuschreibung, die weder vertrauenserweckend noch wissenschaftlich klingt.

Als mildernder Umstand für den österreichischen «Qualitätsjournalismus» kann nur die Tatsache zugelassen werden, dass die ganze Welt die Sprachregelung der US-Counter-Insurgency-Doctrine unkritisch übernahm. Laut «Alternet», einer unabhängigen Internetplattform aus den USA, haben wir eines der klarsten Beispiele von Wahrheitsverdrehungen im Interesse des US-Militärs vor uns. Ohne die Erfindung einer Stadt und deren triumphale Eroberung hätte Präsident Obama die bisher größte und teuerste Offensive gegen die Taliban kaum rechtfertigen können. Die Frage ist nur, ob auch Obama so angelogen wurde wie die gesamte Weltöffentlichkeit. Eine «Stadt» musste her, schreibt Alternet, um die NATO-Offensive als historischen Wendepunkt im Afghanistan-Krieg zu hypen.

Marjah ist nichts als «a few clusters of farmers homes amid a large agricultural area», zitiert Alternet einen Sprecher der International Security Assistance Force (ISAF) ein paar bäuerliche Weiler, würden wir sagen. Richard B Scott, der in dieser Region bis 2005 als Kanalisierungs- und Bewässerungsexperte der US Agency for International Development tätig war, sagte: «Hier gibt es nichts, das nur annähernd an Urbanität erinnert.» Marjah scheine in der amtlichen Liste der Verwaltungseinheiten nicht einmal als selbständiges Dorf auf.

Alternet recherchierte die Entstehungsgeschichte des Marjah-Fakes. Die Fiktion der «80.000-Einwohner-Stadt» hatte ihre Premiere bei einem Briefing im Camp Leatherneck, einer US-Marine-Basis im Süden der Provinz Helmand, am 2. Februar dieses Jahres. Bis zu 1000 aufständische Taliban hätten sich in der Stadt Marjah verschanzt, in der 80.000 Menschen leben, publizierte The Associated Press, und nirgends war ein Karl Kraus zur Stelle, um den Krieg gegen die Wahrheit sofort zu entlarven. «That language evoked an image of house-to-house urban street fighting», stellt Alternet fest. Eine Sprachregelung also, die die Bilder der Schlacht um Stalingrad wachruft. Militärsprecher waren von oben verpflichtet worden, nie das Wort «Dorf» in den Mund zu nehmen, wenn von Marjah die Rede war. Ein US-Reporter erwies sich als ein wenig undiszipliniert und schrieb von «drei Märkten» in der Stadt, die eine Ausdehnung von rund 200 Quadratkilometern habe. Was die Fläche einer Stadt wie Washington DC überträfe.

Die nächste Hochburg ist keine imaginäre …

General Stanley McChrystal, Kommandeur der ISAF, trat offen für die Präparierung der öffentlichen Meinung im Vorfeld der Offensive gegen die Taliban-«Hochburg» ein. «This is all a war of perceptions», wird er zitiert. Ein Krieg um das Wahrnehmungsmonopol. Die Washington Post berichtete am 22. 2., dass hinter der Entscheidung, die Offensive gegen Marjah zu lancieren, von Anfang an der Plan stand, der amerikanischen Öffentlichkeit endlich die militärische Effektivität der US-Streitkräfte in Afghanistan vorzuführen. Für dieses Ziel musste ein triumphaler Sieg inszeniert werden. Marjah musste aufgeblasen werden. Man muss es schon mächtig aufblasen, um die Dimension von Grammatneusiedl zu erreichen. Das reicht aber zur Legitimierung der Militäroffensive nicht aus. Man muss eine Art von Klagenfurt erfinden. Erschöpfte, aber glückliche Streetfighter machen Picknick am Lindwurm; denn jetzt sind nur noch die restlichen Talibannester in den Bärentälern der Provinz auszuräuchern.

Und in der Hauptstadt der Nachbarprovinz: Kandahar. Das ist unanzweifelbar eine große Stadt. Die zweitgrößte Afghanistans. Das nächste Ziel der NATO-Offensive, wie man lesen kann. Mit 350.000 Einwohnern, verbürgt. Von hier brach Ende 1994 die Taliban-Bewegung zu ihrem Siegeszug aus. Die ausgedünnten und zugrunde gesparten Redaktionen der Blätter des Wiener Bildungsbürgertums werden nicht einmal die Agenturberichte der vom US-Kommando gebrieften Associated Press über die Operation Kandahar ins Deutsche übersetzen müssen. Sie brauchen dann nur noch die APA-Meldungen abzuschreiben.

Conclusio: Rettet den unabhängigen Journalismus! Augustiniert die österreichische Publizistik! Befreit Klagenfurt! Und holt die Jungs aus Afghanistan heraus!

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