Pflanzen säen, Zukunft erntentun & lassen

Vom überkandidelten Hauben-Restaurant zum geerdeten Projekt: VinziRast im niederösterreichischen Mayerling in Alland (Foto: Michael Bigus)

Mayerling 1 war einmal eine erste Adresse für Gourmets. Jetzt wird es zur ersten Adresse für unbehauste Menschen, die eine feste Bleibe und Halt suchen. Die VinziRast am Land betreibt das einstige Hotel von Haubenkoch Heinz Hanner als Landwirtschaft mit Gästezimmern, wo man wieder Boden unter den Füßen gewinnen kann.

Die Jungpflanzen stehen in ­ihren Töpfen vor dem Glashaus Spalier, das Kopfsteinpflaster am Boden haben ­Steinmetze ­gespendet und Lehrlinge verlegt. Das Wetter ist gut am 7. Mai, über 500 ­Leute kommen zum Eröffnungsfest der VinziRast am Land in Mayerling 1 in Alland. Dort können Menschen, die in sich und der Welt unbehaust sind, durch die ­Arbeit mit Pflanzen wieder Boden ­unter den ­Füßen fassen. Hier gibt es eine ­große Landwirtschaft, einen Rolls-­Royce von Gastroküche, für jede:n ein eigenes Zimmer und eine Gemeinschaft, die Halt gibt. Um 15 Uhr ist das Essen aus, ­obwohl sechs Frauen in der Küche ­tagelang ­gekocht und Freiwillige das Kuchenbuffet reich ­bestückt haben. Dabei liegt Mayerling nur für Wandernde auf der Pilgerroute nach Mariazell günstig. Mit dem Auto fährt man von Wien gut vierzig Minu­ten, ­öffentlich ist es lausig zu erreichen.

2 Sterne, 3 Hauben, 4 Gabeln

Früher konnte man hier auch mit dem Hubschrauber landen, die heutige VinziRast war einmal eine Pilgerstätte für Gourmets der High Society. Hier kochte Heinz Hanner auf, der mit 23 Jahren seine ­erste Gault-Millau-­Haube bekam. 1990 ­kaufte er seinen Eltern ihre Jausensta­tion ­Marienhof mitsamt 27.000 m2 Grund ab und baute sie nach und nach zum Restaurant Hotel Meeting Point Hanner mit Haubenlokal, Bar, ­Seminarräumen, 37 Zimmern, Fischteich und Hubschrauberlandeplatz aus. Zwei Sterne im ­Guide Michelin, drei Hauben und 18 Punkte im Gault&Millau, vier Falstaff-Gabeln. Doch dann ließen, so die offizielle Erzählung, strengere Compliance-­Regeln die Kund:innenschaft schwinden, 2016 musste der Betrieb schließen, 2018 ­ersteigerte eine Privatstiftung von Hans Peter Haselsteiner die Liegenschaft. Die Geschichte des Hauses ist eine von frühem Erfolg, raschem Wachsen, Scheitern und der Chance auf Neuanfang. Das passt zur VinziRast.

Einfach helfen

Vögel zwitschern, Grillen zirpen, immer wieder kräht der Hahn. Schwarze, braune, gescheckte, ­zerrupfte, kleine, große, drahtige und fette Hühner staksen aufgeregt gackernd durch das Gras. Manche schaffen es über den Zaun in die noch größere Freiheit, kommen aber verlässlich wieder zurück. Sie wissen, wo ihr Zuhause ist. «Es ist ein Luxushotel für Hühner», sagt Dennis Reitinger, der auf der Boku studiert, die Landwirtschaft in Mayerling aufgebaut und mit der Hühnerzucht begonnen hat.
Alles hier hat Geschichte, auch der Stadel. Er ist eine Schenkung und stand ursprünglich im Kamptal. Ein Zimmermann aus Gars baute ihn ab, ­Lehrende und Schüler:innen der HTL Mödling bauten ihn am Rand des Parkplatzes wieder auf und rüsteten ihn dabei gleich mit Solar­paneelen am Dach zum Stromproduzenten hoch. Insgesamt sechs Rassen leben hier in Freilandhaltung, rund 160 Hühner, sie legen in einer guten Woche gut tausend Eier. Die sind so verschieden wie die Hennen und sehr beliebt: zartgrün, dunkelbraun, ockerfarben, weiß, einige so klein wie Wachteleier, andere riesig. Die vollen Eierkartons sind nach Wochentagen sortiert: Sa, So, Mo, Di, Mi. Je nachdem, wann die Eier gelegt wurden. Sie stehen aufeinander gestapelt in einem Regal des Raumes, der sich gerade zum Hofladen mausert. «Gemüsekistel sucht Erntehelfer» ist auf eine Flipchart geschrieben, die Gläser mit Marillenröster im unteren Regalbord stammen aus dem Vorjahr. Hier wird schon länger gebaut, gelebt, gewohnt, ­gesät und geerntet.
Seit fünf Jahren ist Veronika ­Kerres die Obfrau des privaten Vereins Vinzenz­gemeinschaft St. Stephan, dem Trägerverein der VinziRast-Einrichtungen. «Wir erhalten keine Förderungen und versuchen, möglichst viel mit Freiwilligen zu arbeiten. Wir müssen nicht beurteilen, ob jemand Anspruch auf ­unsere Hilfe hat.» Die VinziRast hilft einfach. «Obdachlose Menschen sind zu 93 Prozent psychisch krank. Ein Schlüssel zu einem Zimmer reicht nicht, wir möchten sie zu ihren Ressourcen bringen.» Um Zimmer und Seminarräume zu vermieten, eine Jausenstation und den Hofladen zu betreiben, wurde die VinziRast am Land BetriebsgmbH gegründet. Bis zu 30 Wohnplätze für Personen aus sozi­alen Randgruppen sind in der Vinzi­Rast am Land vorgesehen. Es werden Nutzungsverträge abgeschlossen, die Bewohner:innen zahlen ein Nutzungsentgelt. Wer hier wohnt, soll sich auch in einem der vielfältigen Bereiche des ­Betriebs betätigen.

Flucht nach vorne

Viele ­Obdachlose kommen ursprünglich vom Land, sie ­suchen die Anonymität der Stadt, um sozialer Kontrolle, Stigmatisierung und Scham in ihren Herkunftsorten zu entkommen. Die Stadt ist für die meisten kein gutes Biotop, sie verlieren ­förmlich den ­Boden unter den Füßen. So kam der Verein auf die Idee, eine VinziRast am Land zu gründen. In Maria Anzbach ­hatte man schon einen Hof in ­Einzellage in Aussicht, konnte aber keinen ­landwirtschaftlichen Grund ­erwerben. Da bot Hans ­Peter ­Haselsteiner dem Verein das Anwesen in Mayerling zur unbefristeten Nutzung. An ­einem unwirtlichen, verregneten Herbsttag im Jahr 2019 begutachteten Teile des Vorstands, Alexander Hagner und Ulrike Schartner vom Architekturbüro ­gaupenraub+/-, den Bestand mit seinen stolzen 3.500 m2 Nutzfläche zum ersten Mal. «Wir haben im Keller begonnen und viele Zeitepochen durchschritten. Den elterlichen Marienhof aus den 1930er-Jahren, die erste Erweiterung aus den 1970ern, weitere in den 1980er- und 2000er-Jahren», sagt ­Ulrike ­Schartner. Je jünger die Bausubstanz, umso kurzlebiger die Materialien, was wie Naturstein aussah, entpuppte sich als Kunststeinimitat, teils lag Laminat am Boden des einstigen Luxus­hotels und Gipskarton ohne Ende. «Nichts, wirklich gar nichts war daran charmant», so Schartner.
Prinzipiell reißen gaupenraub+/- nichts ab. «Wir gehen wie Scouts durch den Bestand und erschnüffeln seine Qualitäten.» Die Architekt:innen begegnen der Bausubstanz mit ebenso viel Wertschätzung wie den Menschen, die sie bewohnen werden. Ganz abgesehen vom CO2-Gehalt, den Altbauten speichern. Insofern sind Erhalt und Ausbau aufgrund ihrer Nachhaltigkeit dem Abriss und Neubau immer vorzuziehen. Die gravierenden bauordentlichen und haustechnischen Mängel zeigten sich erst nach und nach: Geheizt wurde mit Öltank, der Lift hatte eine längst abgelaufene Genehmigung des Jahres 1998, die Lüftung keine, auch ein Nachweis für den Brandschutz fehlte. Diese Auflagen zu erfüllen, ­erwies sich als langwierig und kostspielig, selbst wenn nun die meisten Leitungen ­offen geführt werden. Immer noch ist es schwer, sich in den unendlichen Weiten der Gänge, Stiegenhäuser und Nebenräume zwischen den An- und Zubauten dieses ehemaligen Hotels zurechtzufinden. Überall hängen A4-Zettel mit Pfeilen zur besseren Orientierung.
gaupenraub+/- ergriffen die Flucht nach vorne: Die größte Qualität von Mayerling ist die schiere Größe der Liegenschaft. 27.000 m2 Grund mit Fischteich in idyllischer Lage im Wienerwald und ein abgehalftertes Luxushotel mit 3.500 m2 Nutzfläche bieten viele Möglichkeiten. Eine Wäscherei, groß ­genug, um Aufträge aus dem nahen Pensionistenheim anzunehmen, viel Platz für Semi­nare, Werkstätten, Kochkurse und Caterings, 37 Zimmer zwischen 12 und 30 m2. Das Stift Heiligenkreuz ist nicht weit – und hat oft zu wenig Betten. Die ehemalige Dachwohnung des Haubenkochs wird zum Schlafsaal für Wander- und Pilgergruppen umgebaut. Je mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für die Bewohner, desto besser. Arbeit, so die Idee, stiftet Identität und stärkt das Selbstvertrauen.

Hühnertaufe und Kürbisfest

Wo früher die Rezeption war, ist nun das Büro von Irina ­Baumgartner. Sie leitet die ­VinziRast am Land. Im Foyer stehen Barhocker und ein alter Holzkarton: 1er Grand vin, Pichon ­Longeuville, 12 Blles, 1993. ­Baumgartner hat lange bei internationalen Hilfsorganisationen gearbeitet und EU-Projekte abgewickelt. «Ich bin nach wie vor überrascht, dass es funktioniert, sich fast ausschließlich durch Spenden zu finanzieren», sagt sie. «Wir sind von Förderungen unabhängig, müssen nicht ständig Berichte schreiben und können unsere roten Linien selbst festsetzen. Alkohol ist grundsätzlich kein Problem, entscheidend ist, was Individuum und Gruppe tragen können.»
Einiges hatten gaupenraub+/- aus der Erfahrung mit früheren Projekten ­gelernt: Vor allem wie wichtig es für die Akzeptanz in der Nachbarschaft ist, Anrainer:innen möglichst früh zu ­informieren. Deshalb gab es 2019 einen Flohmarkt mit Hühnertaufe durch den Pfarrer und 2020 ein Kürbisfest.
Michi Schmid hat die Landwirtschaft von Dennis Reitinger übernommen und ist nun der Herr über die Felder, den Fischteich und das Gewächshaus. 27 Meter lang, 24 Meter breit, wachsen hier auf 650 m2 unter den Glasdächern unter­schiedlichste Salate, ­Gemüsesorten, Kräuter, auch Exotisches wie Okra, Melo­nen, Physalis. Schmid liebt besonders Schnittblumen, er zieht unter anderem Duftwicken und Zinnien. Auch für ihn ist die Vinzi­Rast am Land nun genau der richtige Ort. Schmid hat die landwirtschaftliche Fachschule hinter sich, hängte ernüchtert von der Agrarindus­trie eine ­Ausbildung für Druck und ­Medientechnik an der Wiener Grafischen an und spürte dann umso dringlicher, wie sehr er die Pflanzen vermisste. Michi gründete erst ­einen Gemeinschaftsgarten, dann eine solidarische Landwirtschaft. Ihm fehlte die ­soziale Komponente. «Ich möchte auf ­jeden zugehen», sagt er. «Im Garten gibt es viel zu tun. Ich mag es sehr gern, mit den Leuten in Kontakt zu treten und ­ihnen die Pflanzen zu erklären.»
Oben auf der Hügelkuppe am Waldsaum rackern sich Karin und John (­Namen v. d. Red. geändert, Anm.) in der ­Hitze ab. Sie jäten Unkraut. Ernten, ­Rasen mähen, Hühner füttern, Eier ­holen: Das tut jede:r gern. Unkraut jäten fast keine:r. Der Mann mit den Rastalocken und dem entwaffnenden Lächeln kommt aus Toronto und ist während der COVID-Pandemie in Österreich hängen geblieben. «After the coronavirus I got stuck, I just plugged in here», sagte er vorhin noch in der Küche beim Abwasch. «It’s really nice. I love it already.» Kurz darauf hat er eine Fuhre Erde mit der Schubkarre über den Hang geschoben, nun hockt er neben Karin im Gras. Er sieht ­sofort, wo etwas zu tun ist. «Er hat so eine Körperkraft, er ist dankbar für jede ­Arbeit», sagt Michi Schmid. «Er war früher ­Marathonläufer und bringt ­Projekte auch zu einem ­Abschluss. Das ist oft ein Thema.» Karin wohnt nicht in der Vinzi­Rast am Land, doch sie kommt jeden Tag und arbeitet am Feld. Sie ist sehr blass, sehr schmal, sehr introvertiert, immer über die Pflanzen gebeugt, immer in sich versunken. Aber drahtig. Eine zähe Arbei­terin. «Sie sind ein starkes Team», sagt Michi.

Langsam wachsen

«Wir fühlen, dass wir die Eigentümer dieses Landes sind», sagt Nabil. In seiner Heimat Libyen betrieb er einen Bauernhof. 2014 suchte er um Asyl in Österreich an, er ist sicher über 60 ­Jahre alt und sehr gut darin, Maschinen zu reparieren – was niemanden interessierte: Er fand keine Arbeit, wohnte bis dato im CortiHaus. Er wird in Mayerling bleiben. «Ich vermisste meine Farm so sehr. Hier sind wir ­unabhängig, wir ­bauen unser Gemüse an, backen ­unser Brot, fangen unsere Fische.» ­Nabil ­richtet sich ­gerade eine Werkstatt ein, er repariert ­alles. Die Gemeinschaft wächst langsam. Die elf Bewohner:innen hier kommen aus sechs Nationen: Kenia, Kanada, Libyen, Deutschland, Syrien, Österreich.
Michael Wuchty ist knapp fünfzig, sieht aber jünger aus. Seine helle Haut verträgt kaum Sonne, er sitzt gern im Schatten auf der Terrasse, Lieblingsplatz vieler. Auch er kommt aus dem CortiHaus und hat eine kleine Odyssee hinter sich. Von einem Tag auf den ­anderen hatte ihn seine Vermieterin aus der Wohnung in der Buckligen Welt ­geschmissen, damals machte er beim WIFI eine Ausbildung zum Spengler, dann kam ein Auto­unfall, eine Zwischenstation in einer Wohngemeinschaft im 22. Bezirk, in der er nicht gemeldet war. Er landete in der Gruft. Michael trinkt nicht, wirkt grundsolide, wollte nicht herumstreunen und verbrachte seine Zeit im Tageszentrum.
Ina, eine junge, cool gestylte Frau mit roten Haaren, Piercings, Minirock im Schottenkaro und Doc Martens, setzt sich auf die Terrasse dazu und raucht. Fast alle hier rauchen, zum Zigarettenautomaten in Mayerling geht man eine halbe ­Stunde, Vorratshaltung empfiehlt sich. Ina und Michi kümmern sich um die Fremdenzimmer, das Frühstück, das Check-in und Check-out.
Am zweiten Mai-Wochenende waren 13 Zimmer belegt und 25 Leute da. Die beiden kamen ordentlich ins Schwitzen, das Feedback war gut.

Verein Vinzenzgemeinschaft St. Stephan

2003 gegründet von Cecily Corti

2004 VinziRast-Notschlafstelle, 60 Betten,
12., ­Wilhelmstraße 10

2008 VinziRast-CortiHaus, 16 Wohneinheiten für
30 Menschen, 12., Wilhelmstraße 10

2013 VinziRast mittendrin, 10 WGs für Studierende und Obdachlose, 9., Lackierergasse 10

2023 VinziRast am Land, dauerhafter Wohnplatz
für bis zu 40 Menschen, 2534 Alland, Mayerling 1