Wenn Eltern ihre Kinder gefährden, schreitet das Jugendamt ein. Pflegeeltern, ob für kurze oder lange Zeit, bilden ein Auffangnetz für Kinder, die dringend ein Zuhause brauchen. Oft sind es mehrere Geschwister. Doch nicht alle finden in einer Familie Platz.
TEXT: LENA ÖLLER
COLLAGE: CAROLINA FRANK
Maya ist acht Jahre alt und hat zwei Mamas und keinen Papa. Das liegt aber nicht daran, dass ihre Eltern in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung leben, ihre Mütter kennen sich eigentlich gar nicht so gut. Der Grund dafür ist ein anderer. Ihrer leiblichen Mama Andrea ist Gewalt widerfahren, sie lebt in toxischen Beziehungen und kann nicht ausreichend für ihre Kinder sorgen, weshalb ihr ältester Sohn in einer betreuten Wohngemeinschaft lebt. Der zweite Sohn ist in einer Pflegefamilie untergebracht. Als Andrea erneut schwanger wird, mit Maya, steht bereits fest, dass auch sie in einer anderen Familie aufwachsen wird. Sie sind keine Einzelfälle – aktuell sind 12.871 Kinder in Österreich «fremduntergebracht».
Plötzlich Mutter.
«Irgendwie ist man darauf vorbereitet und irgendwie auch nicht», sagt Romana, als sie an den Tag zurückdenkt, an dem eine Mitarbeiterin des Jugendamtes sie anrief. Ein dreiviertel Jahr nach der Ausbildung zur Pflegemutter sollte sie nun eine Tochter bekommen. Als Romana Maya zum ersten Mal sieht, ist sie drei Tage alt. «Für viele in meinem Umfeld war es sehr überraschend, dass ich plötzlich eine Tochter habe. Die meisten dachten, ich sei unfruchtbar», erzählt sie. Ein Kind in Pflege zu nehmen, anstatt selbst eines zu bekommen, darauf brachte sie damals ein Bekannter, der selbst Pflegevater ist.
Romana ist alleinerziehende Langzeit-Pflegemutter und ebenso kein Einzelfall. «Was es an Familienkonstellationen im realen Leben gibt, gibt es auch in der Pflege», sagt Martina Reichl-Roßbacher, Leiterin des Referats für Pflege- und Adoptivkinder der MA 11. Seit einigen Jahren können Singles, Homosexuelle und Patchwork-Familien Pflegekinder aufnehmen. Es war eine der ersten großen Maßnahmen, um dem Mangel dringend benötigter Pflegestellen entgegenzuwirken. 2022 wurden weitere Anreize geschaffen: Karenzzeiten wurden zugesichert, das Gehalt erhöht. Denn als Pflegeelternteil kann man sich auch anstellen lassen, etwa über einen gemeinnützigen Verein. Das Entgelt beim Verein Eltern für Kinder Österreich beträgt in Wien monatlich 486,85 Euro brutto (Stand: Jänner 2022). Krisenpflegeeltern, die in Härtefällen kurzzeitig einspringen, erhalten seit September 2022 ein monatliches Bruttoeinkommen von rund 1.500 Euro. Wenig, könnte man meinen, immerhin ist das ein 24-Stunden-Job. «Pflegemutter wird man aber ohnehin nicht des Geldes wegen», erwidert Martina Reichl-Roßbacher.
Pflege vs. Adoption.
Was für viele dagegen spricht, ein Pflegekind aufzunehmen, ist der Unterschied zu einer Adoption. Die Pflege eines Kindes kann nämlich zeitlich begrenzt sein, denn die Kinder können unter Umständen wieder zu ihren leiblichen Eltern zurückkehren. Außerdem haben sowohl die Kinder als auch die leiblichen Eltern ein Kontaktrecht. Damit müssen Pflegeeltern umgehen können. «Während Adoption als Luxusthema in den Köpfen verankert ist, gilt Pflegschaft eher als Sozialthema», so Romana. «Und es hat viel mit dem ‹Es ist meins›-Gedanken zu tun. Wobei man ja sagen muss: Auch wenn man ein Kind selbst gebärt, ist es nicht ‹meins›. Es ist ein eigenständiger Mensch.»
Es war zu Beginn alles andere als leicht, gibt sie zu: «In den ersten paar Tagen, da konnte ich mich emotional noch nicht ganz darauf einlassen, dass ich jetzt Mama bin», erzählt sie. «Ich hatte oft den Gedanken, dass ich keiner anderen Mutter ihr Kind wegnehmen will.» Drei Wochen nach Mayas Geburt treffen sich Andrea und Romana zum ersten Mal. Mit dabei ist auch eine Sozialarbeiterin. Drei Frauen, ein Ziel: Maya geliebt aufwachsen zu sehen.
Um Pflegemutter zu werden, hat Romana einen Vorbereitungskurs bei der MA 11 abgelegt. Es wurde ein sogenannter Background-Check gemacht, bei dem geschaut wird, ob auch das Umfeld für die Aufnahme bereit ist und gegebenenfalls Unterstützung leistet. «Am wichtigsten ist aber die Bereitschaft, gemeinsam mit einem Kind durchs Leben gehen zu wollen», fügt Martina Reichl-Roßbacher hinzu. Bisher kinderlose Pflegeeltern bekommen zusätzliche Schulungen, wie etwa zu Gesprächsführung mit Kindern, «was eigentlich für alle werdenden Eltern sinnvoll wäre», meint Romana.
Vor einer Abnahme haben die Mitarbeiter:innen der MA 11 die Aufgabe, die Lebensrealitäten der Kinder bei ihren leiblichen Eltern zu überprüfen. Ist die Gefährdung des Kindeswohls akut, kann eine Abnahme innerhalb von Minuten passieren. Die Kinder kommen dann zu einer Krisenpflegefamilie, bis man weiß, wie es weitergehen kann.
Bei langfristiger Unterbringung seien zwar Pflegefamilien immer die erste Wahl, betont die Abteilungsleiterin der MA 11, dennoch kommen viele Kinder in Wohngemeinschaften. Die Vermittlung sei nicht einfach, weil es erstens an Pflegeeltern fehle und zweitens, weil viele der Kinder schon älter sind. Zwar dürfen über 2-jährige Kinder in Pflegefamilien kommen, das geschieht jedoch leider selten. «Mittlerweile weiß man aber, was es mit einem Kind macht, wenn es lange schlecht aufwächst. Stichwort chronische Vernachlässigung und ihre Auswirkungen. Ich glaube davor haben viele Sorgen», so die Sozialarbeiterin. Hier müsse mehr Aufklärung und Unterstützung gegeben werden, damit auch Kinder, die über zwei Jahre alt sind, leichter vermittelt werden können.
Cecilia kennt das System aus eigener Erfahrung. Auch wenn es schon über 15 Jahre her ist und sie es nicht gerne macht, so kann sie sich an den Tag der Abnahme erinnern, als sei es gestern gewesen. Sie war neun Jahre alt. «Wir saßen da im Stuhlkreis, meine Mama, meine drei Brüder und unsere Sozialbetreuerin. Da hieß es, wir werden ab jetzt nicht mehr zuhause wohnen – und unsere Mama zumindest eine Zeit lang nicht mehr sehen.» Vernachlässigung und die psychische Erkrankung der Mutter waren der Grund für die behördliche Abnahme der vier Kinder. «Meine jüngeren Brüder konnten das gar nicht richtig verstehen. Aber ich wusste sofort, jetzt wird alles anders.» Die beiden jüngeren Brüder kamen in Pflegefamilien, Cecilia und ihr ältester Bruder wurden in eine betreute Wohngemeinschaft gebracht. Dort sollten sie, zusammen mit sechs anderen Kindern, ihre Kindheit verbringen.
Getrennte Geschwister.
Wenn es darum geht, Geschwister gemeinsam zu vermitteln, stößt das System schnell an seine Grenzen. Pflegefamilien wollen oder können oftmals nicht mehrere Kinder aufnehmen. Die Unterbringung in Wohngemeinschaften wird seitens der Behörden so gut es geht vermieden – ist manchmal aber die einzige Option. «Es gibt Geschwister, die man sehr wohl trennen kann, weil sie alle so bedürftig sind», sagt Martina Reichl-Roßbacher. Durch Traumata könnten Geschwister auch untereinander Gewalt anwenden, und dies gelte es zu verhindern. Gewisse Grundwerte würden aber bei der Unterbringung stets eingehalten werden: «Zwillinge werden nie getrennt. Und es gibt einfach Kinder, die brauchen sich gegenseitig – darauf achten wir schon.»
Cecilia und ihre Geschwister hätten sich gebraucht, sagt die heute 23-Jährige. An ihre Zeit in der Wohngemeinschaft hat sie keine guten Erinnerungen: «Ich hab mich von Anfang an unwohl gefühlt. Die Kinder dort, die waren laut, anstrengend, fordernd. Irgendwie ganz anders als wir. Es fühlte sich nicht an wie ein Zuhause.» Der Kontakt zu den anderen beiden Brüdern war während dieser Zeit sporadisch, auch das hat Narben hinterlassen. Den Kontakt zu ihrer leiblichen Mutter hat sie nach jahrelangem Hin und Her weitestgehend abgebrochen. Mit 18 Jahren, mitten im Maturajahr, musste sie schließlich auch die WG verlassen. Das ist knapp fünf Jahre her. «Aber heute kann ich mit Stolz sagen, ich komme klar. Ich studiere, ich hab mein Leben im Griff, ich werde mal was erreichen – ich bin anders als meine Eltern.»
Allein in der Bundeshauptstadt sucht man aktuell 40 bis 60 neue Pflegeeltern. Auch in der Krisenpflege sei der Bedarf hoch, dafür werden aktuell noch 15 Familien gesucht, die spontan einspringen können. Ob für kurze oder lange Zeit: Es braucht mehr Pflegeeltern für diese Kinder und deren Bedürfnis nach einem geborgenen Zuhause. Für ältere Kinder, die es am nötigsten haben, umso mehr.
Die Namen der Protagonistinnen, bis auf die Sozialarbeiterin der MA 11, wurden aus Anonymitätsgründen von der Redaktion geändert.