Piräus Erinnerung an die «Costa Concordia»Dichter Innenteil

Der Herr Groll

Nach der chaotisch verlaufenen Anreise und der daraus resultierenden Verspätung konnte Groll froh sein, noch ein paar Strahlen der untergehenden Sonne im Fährhafen von Piräus zu erhaschen. Mit seiner Begleiterin trank er ein paar Gläser leichten Weißweins, dazu nahmen sie Zaziki, gefüllte Weinblätter, Oliven und Fladenbrot.

Das Lokal bot im Freien schätzungsweise dreihundert Menschen Platz, mehr als eine Handvoll waren aber nicht zu sehen. Groll kannte diese Praxis aus Zypern, auch dort gibt es viele Tavernen, ob am Strand oder in den Bergen, die tagsüber wie ausgestorben sind und nur am Wochenende für großangelegte Familienfeiern zum Leben erwachen, mit Live-Musik, gegrillten Fischen und den diversen Kleftikos, die in Steinöfen gegart werden. An den Wochenenden machen die Lokalbesitzer neunzig Prozent des Umsatzes; dass sie während der Woche überhaupt aufsperren, ist ein Tribut an den Tourismus.

Nach der «Zuiderdam», einem riesigen Kreuzfahrtschiff der Holland American Lines, machte sich nun ein Schiff der Costa-Cruises auf, den Fährhafen von Piräus zu verlassen. Der stählerne Riese mit den gelb gestrichenen Zwillingsschornsteinen tastete sich wie eine vorsintflutliche Echse Meter um Meter aus seinem Liegeplatz.

Es sollte das letzte Mal sein, dass die «Costa Concordia», das Flagschiff der Costa-Linie, Piräus anlief. Am 12. Jänner 2012 lief sie vor der toskanischen Insel Giglio auf Grund und sank. Hätte Groll in Piräus jemand gesagt, dass das riesige und stolze Schiff in wenigen Wochen wie ein aufgeschlitzter Riesenwal seitlich vor dem kleinen Inselhafen liegen und dass zwei Dutzend Menschen bei dem Unfall ihr Leben lassen würden, er hätte den Hellseher wegen Schwarzseherei und dem Herbeireden von Unglück auf die Mole gezerrt und an einen Poller gebunden. Sollte der Unglücksrabe seinen Mund dann noch immer nicht gehalten und von der Ursache des späteren Unglücks gefaselt haben dass nämlich der Kapitän einer verbreiteten Unsitte der Kreuzfahrer folgend, zu nah ans Ufer gefahren sei, um Verwandte des Chefstewards zu grüßen, so hätte Groll dem schwarzen Auguren mit einem Knebel den Mund verstopft. Hätte auch das nicht gereicht, hätte der Mann die Unverfrorenheit besessen, den Knebel auszuspucken und den Kapitän des schlimmsten Versagens der Flucht vom sinkenden Schiff, bevor die viertausend Passagiere gerettet waren, zu bezichtigen, so würde Groll den Abgesandten der Schiffshölle im Hafenbecken ertränkt haben.

So aber steuerte die «Costa Concordia» mit jeweils einem Lotsenboot an Bug und Heck durch die enge Hafeneinfahrt, ein riesiger weißer Schwan, für alle Zeit unverwundbar.

Im Flugzeug hatte Grolls Begleiterin einen bemerkenswerten Artikel gelesen. Von einer Umweltschutzorganisation wurde im Dezember 2011 den Präsidenten von AIDA Cruises und TUI Cruises der Negativpreis «Dinosaurier des Jahres» verliehen. Der Grund: Die Kreuzfahrtschiffe würden auf hoher See immer noch mit giftigem Scheröl fahren, somit seien die «Weißen Flotten» in Wahrheit dreckige Rußschleudern. Ein einziger Ozeanriese stoße auf einer Kreuzfahrt so viele Schadstoffe aus wie fünf Millionen Autos auf der gleichen Strecke. Zwar ließen die Gefahren für die Umwelt und die Gesundheit der Menschen sich leicht vermeiden, aber aus Profitgier verweigerten die Reeder die Verwendung von Schiffsdiesel und den Einbau von Abgastechniken wie Rußpartikelfilter.

Die Costa Cruises zählen neben der jungen AIDA Cruises, der noblen Cunard Line mit ihren Queen Elisabeths, Marys und Victorias, der Holland-American Line mit ihren dunkel gestrichenen Ozeanriesen, die allesamt mit der Endsilbe -dam (Rotterdam, Molendam, Nordam) enden, der Peninsula & Overseas Line (P&O), der Ibero Cruceros und vielen anderen Reedereien zur weltgrößten Reederei überhaupt der Carnival Corporation, die in ihren Tochterreedereien hundert Ozeanriesen betreibt und jährlich fünf bis zehn neue Großschiffe in Fahrt bringt. Rund vierhunderttausend Menschen befinden sich zur selben Zeit auf den Weltmeeren auf Schiffseinheiten des Monopolkonzerns auf einer Kreuzfahrt. Rechnet man, dass eine durchschnittliche Schiffsreise zehn Tage dauert und sowohl im Winter wie auch im Sommer gefahren wird und dass die Schiffe in nur wenigen Tagen auf Reparaturwerften gewartet werden, so kommt man auf einen jährlichen Passagierumschlag von geschätzten 14,4 Millionen Passagieren. Wenn die Carnival Corporation nach Abzug aller Kosten nur hundert Euro pro Gast verdient, was eine äußerst bescheidene Annahme darstellt, so kommt man auf einen Profit von einer Milliarde und vierhundert Millionen Euro. Das ist also der Grund dafür, dass immer größere neue Schiffe in immer kürzeren Zeiträumen in Dienst gestellt werden, dachte Groll. Deshalb zählt die Kreuzfahrt-Industrie zu den gewinnträchtigsten Branchen der Gegenwart. Dazu kommt, dass die Carnival Corporation mit ihren hundert Schiffen in Panama registriert ist. Dafür gibt es einen simplen Grund: Nach panamesischem Recht sind Gewinne, die im Ausland gemacht werden, steuerfrei. Wenn es um so viel Geld geht, verwundert es nicht, dass die Kreuzfahrt-Industrie zu den größten Umweltverschmutzern zählt, dachte Groll und schenkte seiner Begleiterin Wein nach. Als er wieder aufschaute, war von der «Costa Concordia» nichts mehr zu sehen.

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