Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus, Teil 13
Es gibt Schriftsteller, die schon in zwanzig Seiten ausdrücken können, wozu ich manchmal sogar zwei Zeilen brauche.
Karl Kraus
Die großen Aphoristiker lesen sich so, als ob sie einander gut gekannt hätten.
Elias Canetti
aber ich blieb dabei, Aphorismen zu sagen, wo ich Zustände enthüllen sollte.
Karl KrausEin guter Aphorismus zeichnet sich gemeinhin dadurch aus, dass man ihn für selbstgefälliges Blendwerk hält. Vor allem in jenen Zirkeln, die sich als intellektuelle verstehen, weil sie den Geist umzingelt haben, ihm aber um keinen Zentimeter zu Leibe rücken. Wie auch, wenn man die Sprache versklavt, zum Ausheben von Schützengräben, anstatt ihrer wahren Qualifikation zu vertrauen: als Kundschafterin in eben jene Welt des Geistes!
Die Ignoranz gegenüber dem Aphorismus deckt sich nicht zufällig mit jener gegenüber Karl Kraus Sprachverständnis. Selbst bekennende Krausfans tun sein Faible für den Aphorismus oft als Jugendsünde ab, die er sich mit zunehmender Ernsthaftigkeit, also spätestens seit dem I. Weltkrieg, abgewöhnt hätte. Doch wer den Aphoristiker Kraus nicht versteht, hat wenig von Kraus verstanden!
Ganz seinem Wesen gemäß entzieht sich der Aphorismus, jenes kleinste mögliche Ganze, wie Robert Musil es nannte, einer klaren Definition. Ob er nun zu einem Kurzessay anschwillt oder zum elliptischen Kurzsatz schrumpft, ob er mit Prägnanz überrascht oder durch irisierendes Sprachspiel verzaubert, sein Gemeinsames findet er in möglichst pointierter Verdichtung von Form und Inhalt. Im Idealfall ist er ein lebendiges Gewebe, in dem selbst Wortklang und Tonfall Bedeutung tragen und Mehrdeutigkeit, Übertreibung, Witz, Allegorie und Paradoxon einander umschlingen, durchwirken und verstärken, ein Kaleidoskop an Nuancen, gegen das ein dem nüchternen Grau von Sachwert, Argument und Gegenargument verpflichtetes sprachfernes Denken farbenblind bleibt.
Den Aphorismus mit der Banalität zu verteidigen, es tummelten sich in ihm wie in jeder anderen literarischen Gattung auch alle Niveaustufen, von abgegriffenem Kalenderspruch bis zu kritischem Scharfsinn, ist eine Fleißaufgabe. Denn denen er nicht behagt, ist er ohnehin nur Spruch. Der Unterschied zwischen Flitter und Brillanz fällt ihnen nicht auf, weil sie im Dienste der Sache zu argumentieren glauben, für deren Ausdruck ihnen Sprache ein fertiges Baukastensystem ist.
Am wenigsten aber verstehen sie die Potenz des kunstvollen Aphorismus, mehrere Bedeutungen gleichzeitig auszudrücken, ohne sich in Beliebigkeit zu verlieren. Er ist weder Ausdruck positiver Wahrheit noch verbindlicher Meinung, sondern Konzentrat gedanklicher Widersprüche, das sich bewusst der analytischen Erklärung entzieht. Ein Aphorismus, aphorisiert Kraus, braucht nicht wahr zu sein, aber er soll die Wahrheit überflügeln. Er muss mit einem Satz über sie hinauskommen.
Dieses Mehr an Wahrheit aber wird als ein Weniger empfunden, von jenen Systematikern, die sich ihre Unfähigkeit, Gedanken blitzen zu lassen, als Seriosität verbuchen und mit der Fähigkeit hadern, eine Wahrheit auf Stamperlmaß zu destillieren, auf deren hektoliterweisen Verwässerung ihre publizistischen Karrieren gründen. Doch Einer, der Aphorismen schreiben kann, so Karl Kraus, sollte sich nicht in Aufsätzen zersplittern.
Es gibt Menschentypen, denen aphoristisches Denken immer so fremd bleiben wird wie Verführungskunst dem Vergewaltiger. Zum Beispiel Rationalisten alter Schule, die Aphorismen aus Mangel an Beweisbarkeit aus dem Studienplan streichen, als deren ausgestorbene Unterart Vulgärmarxisten, die sich zur Sprache verhielten wie zu einer Viehherde, die es für die Revolution zu requirieren galt, oder Bewohner bestimmter mitteleuropäischer Regionen, denen die windige Vieldeutigkeit des aphoristischen Sprachspiels entweder die alpine Schlichtheit oder das bürokratische Ordnungsbedürfnis bedroht. Doch der gelungene Aphorismus ist Resultat höchster logischer Denkkonzentration. Anders als beim frei-assoziativen Sprachspiel muss hier Logik begriffen werden, ehe man sie auf den Kopf stellt.
Umso weniger lässt sich der Aphorismus logisch zerlegen und referieren, weder auf dem Flipchart noch auf der Overheadfolie. Den Aphoristiker zur Erörterung zu nötigen, was er denn eigentlich meine, kommt der Aufforderung gleich, die eigenen Kinder öffentlich zu vivisezieren. Die den Aphorismus nicht verstehen, werden ihn stets für Bluff und Originalitätssucht halten.
Tiefsinn in seichten Gewässern
Die besten Aphorismen flossen aus den Federn La Rochefoucaulds, Lichtenbergs, Goethes, Schopenhauers, Nietzsches, Nestroys, von Jonathan Swift, Ambrose Bierce, Oscar Wilde und Adorno, dem vielleicht scharfsinnigsten, aber auch ernsthaftesten Aphoristiker. Er versagt sich den Witz, welchen Karl Kraus als Bindeglied zwischen ihm und Wilde der Gesellschaftskritik noch in allen Kalibergrößen dienlich macht.
Helmuth Arntzen hat in einem Artikel versucht, Kraus Aphoristik von den bloß spielerischen Paradoxen eines Oscar Wilde abzuheben. Nicht zu Unrecht, hatte doch niemand apodiktischer Sprachwitz zum Zwecke des erheiternden Effekts verdammt als Karl Kraus: Von wem man sagen kann, dass er einem Einfall eine Einsicht geopfert hat, dessen Gesinnung war so schlecht wie der Witz. Doch: Der Wortwitz, als Selbstzweck verächtlich, kann das edelste Mittel einer künstlerischen Absicht sein, indem er der Abbreviatur einer witzigen Anschauung dient. Er kann ein sozialkritisches Epigramm sein. Kraus wusste wohl, was er an seinem Wilde, wie er wusste, was er an seinem Nestroy hatte. Oscar Wilde auf den amüsanten Paradoxiker zu verkürzen ist ein Klischee der Halbbildung. Kraus bewunderte Tiefgang und Treffsicherheit vieler Wildescher Aphorismen, druckte dessen amüsante Einfälle aber auch ab, wenn sie sich auf paradoxen Effekt und heitere Überheblichkeit beschränkten mit gutem Grund. Der egomane Gestus, den Wilde stets mit einem Augenzwinkern zu brechen wusste, ist probate Provokation eines Spießertums, das sich ebenso in falscher Bescheidenheit wie falscher Objektivität übt, in ständiger Kontrolle, dass kein Individuum aus dem verwalteten Maß der Mittelmäßigkeit ausschert. Kraus-Aphorismen wie: Ich habe keine Mitarbeiter mehr. Ich war ihnen neidisch. Sie stoßen mir die Leser ab, die ich selbst verlieren will oder der Wunsch, sein Dasein vom Dabeisein der anderen zu sondern, erweisen unverkennbar dem irischen Dichter Reverenz.
Selbst das nackteste Paradoxon, aus reiner Lust an ihm selbst geschaffen, gibt dem Denken mehr elektrische Impulse als jede formelhafte Formulierung planer Wahrheit. Doch nichts mag man einwenden ist bereits geistreich, weil es widersprüchlich formuliert ist, und von Oscar Wilde die Antwort erhalten, das Paradoxon sei nicht Selbstzweck, sondern das Seil, auf dem wir die Wahrheiten tanzen lassen. Nur so lässt sich ihr Wert überprüfen.
Einen weiteren Meister findet Kraus in Johann Nepomuk Nestroy, an dessen atemberaubenden Sprachvolten er als erster das geistige Niveau erkennt, das ihnen eignet, und der ihn lehrt, wie die Sprache für jede Redensart einen Gedanken abwerfen kann.
Welch reizvolle Herausforderung für den Aphoristiker, gerade das tote Sprachmaterial, die Formel, die feste Wendung durch schöpferische Verfremdung umzupolen, den Attentäter für die eigene Sache aus dem Feindeslager zu rekrutieren. Nestroys Wenn alle Stricke reißen, häng ich mich auf mag noch als bitter-gspaßiges Oxymoron durchgehen. Mehr Tiefenschärfe gewinnt das Kokettieren mit dem Schrecken schon, wenn die Redewendung gegen populäre Meinung gewendet wird: Es gibt wohl viele, die ganz stolz den Selbstmord eine Feigheit nennen sie sollens erst probieren, nachher sollen s reden! Bei Wer über gewisse Dinge den Verstand nicht verliert, der hat keinen zu verlieren indes wird das Wortspiel bereits zur Losung kritischen Bewusstseins. Kraus schrieb: Ein Literaturprofessor meinte, dass meine Aphorismen nur die mechanische Umdrehung von Redensarten seien. Das ist ganz zutreffend. Nur hat er den Gedanken nicht erfasst, der die Mechanik treibt: dass bei der mechanischen Umdrehung der Redensarten mehr herauskommt als bei der mechanischen Wiederholung.
Weil ihm kein sprachliches Mittel zu blöd ist, um das Bildungsbürgertum seiner Blödheit zu überführen, munitioniert Kraus besonders gern den verpönten Kalauer mit Geist und beweist stets aufs Neue, dass auch dieses Sprachspiel nie billiger ist als sein Sprecher, aber nichts seiner Teuerung im Wege steht. Denn es ist wohl ein Unterschied erkennbar, ob Franzobel William S. Burroughs Blade Runner in Blödrunner umkalauert oder Kraus das Land der Dichter und Denker als Land der Richter und Henker zu erkennen gibt.
Fazit: Wahrer Geist genießt auch das fröhliche Plätschern seichter Gewässer. Während falscher Tiefsinn sogar darin ersäuft.
Versöhnung archaischer Bildfülle mit gedanklicher Abstraktion
Ein befreundeter Taxifahrer aus dem Iran bekam vor Freude feuchte Augen, als ich ihm einen jener Aphorismen rezitierte, die Kraus zugeschrieben werden, aber nicht von ihm stammen: Wenn die Sonne der Kultur niedrig steht, werfen selbst Zwerge lange Schatten. Das beweist nicht, dass dieser taxifahrende Akademiker ein Edler Wilder war, sondern dass in bestimmten Kulturen die Sprache noch beim Wort genommen wird und Bildhaftigkeit und Gestaltungskraft hohe Achtung besitzen. Denn entgegen einer landläufigen Vorstellung vollzieht sich die Evolution der Sprache nicht von primitiv zu komplex, von einer Blindheit der Anschauung ohne Begriffe (Kant) zu stärkerer begrifflicher Klarheit, sondern von poetischer Formenvielfalt zu der Rationalisierung und Medialisierung, deren wortkarge Zeugen und Opfer wir heute sind. Was die Sprache an Abstraktion gewann, verlor sie an mimetischem Bilderreichtum. Unzählige ethnographische Beispiele ließen sich dafür finden, wie etwa das der Indianerkrieger, die sich soziales Ansehen weniger durch die Anzahl skalpierter US-Kavalleristen als die Kraft und Anschaulichkeit ihrer Rede verschafften, oder der Inuit, über deren Sprache der Ethnologe Thalbitzer zu Beginn des 20. Jahrhunderts schrieb: In einem ganz anderen Sinne als in unseren Sprachen werden die Wörter im Eskimo auf der Zunge geboren unter dem Antrieb des Augenblicks. Wo wir abgeschlossene, voll entwickelte Wörter oder Redeteile verwenden, schafft das Eskimo neue Kombinationen, eigens dazu gebildet, den Anforderungen jeder Situation zu begegnen. Was die Wortbildung angeht, so befindet sich das Eskimo in einem unaufhörlichen statu nascendi. Die Verschriftung der Sprache bedeutete auch eine Ad-acta-Legung ihrer Elemente, die den modernen Menschen von der autonomen Sprachgestaltung entlastete. Griffbereit, aber nicht begriffen lagert nun die Sprache in der Hausbibliothek.
Als Dialektiker spielten oben genannte Aphoristiker nicht moderne gegen vormoderne Welt aus, sondern verschmolzen das Beste aus beiden, Bild und Gedanke, Anschauung und Abstraktion. Kein Zufall, dass sie dem 17. bis 19. Jahrhundert entstammten, als beide Welten fruchtbar wie traumatisch kollidierten. Der Erfolg Nestroys beim Wiener Publikum des Vormärz lässt sich nicht nur dadurch erklären, dass er seine antithetischen Pointen unbemerkt in leichter Unterhaltung versteckte. Nein, die Brutalität frühkapitalistischer Lebensbedingungen sowie eine heute nicht mehr nachvollziehbare Sprachflexibilität befähigte es in größerem Maße, Nestroys sprachverbuhltem Humor zu folgen.
In einer interessanten Grauzone der Auslegbarkeit schwebt Karl Kraus Satz Der Aphorismus deckt sich nie mit der Wahrheit; er ist entweder eine halbe Wahrheit oder anderthalb. Ist diese halbe Wahrheit jedoch mit dem polemischen Begriff Halbwahrheit identisch, wie der Satz allgemein interpretiert wird, oder ließe er sich doch so verstehen, dass selbst eine halbe Wahrheit der Anmaßung überlegen sei, eine Sache sprachlich, als positive Aussage, als ganze Wahrheit, erfasst zu haben? Wie jene Nachzügler eines aristotelischen Objektivismus, die eine Sache auf den Punkt zu bringen glauben und sie doch nur mit dem Punkt verwechseln, den sie ihr ausgestanzt haben. Das kategorisierende Denken tut der flatterhaften Wirklichkeit Gewalt an, indem es diese wie Schmetterlingsleiber aufspießt, während aphoristisches Denken sie liebe- und respektvoller, mit seinen Über- und Untertreibungen im Fluge umspielt und somit seinen Beitrag leistet zu einer tieferen philosophischen Humanität.
Der Aphorismus ist nicht tot. Er hält bloß seinen Schönheitsschlaf. Und wartet auf Zeiten, da der Sprache der Wert zurückerstattet wird, den man ihr durch ihre Versklavung geraubt hat.
Lesetipp:
Karl Kraus: Aphorismen. Frankfurt am Main 1986