Point of no ReturnArtistin

Die Kipppunkte sind eine interessante Reihe von Heften im A5-Format, die sich zu verschiedenen Themen äußern. Eine Ausstellung zum Mitnehmen sozusagen, mit Texten und Bildern, die größer sind, als sie auf den ersten Blick aussehen.

Text & Fotos: CHRISTOPH FELLMER

Dass die Kipppunkte so sind, wie sie sind, ist einem Zufall zu verdanken. Die handliche Heft­reihe im Postkarten­format ist das Resultat einer Begegnung zwischen ihrem Herausgeber Stefan Zefferer, der für die enthaltenen Texte zuständig ist, und dem Maler Michael Maicher. Weil kein anderer Platz mehr frei war, mussten sie sich vor einiger Zeit einen Tisch in ihrem Stamm­café Pazzo in der Klagenfurter Universitätsstraße teilen. Da kannten sie sich nur vom Sehen, kamen ins Gespräch und lernten sich kennen. Als Zefferer den Plan ausbrütete, einige seiner Texte in Heftform zu veröffentlichen, bat er Maicher um dazu passende Illustrationen. Mittlerweile dauert die Zusammenarbeit der beiden Künstler bereits elf Kipppunkte-Ausgaben lang, die sich mit unterschiedlichen Themen befassen, aber immer den Zustand der Welt und den Blick der beiden auf diese reflektieren. Es sind Lesehefte, in denen Stefan Zefferer, der derzeit die Pressearbeit für das Stadttheater Villach macht, versucht, «literarische Statements abzugeben, auch zur Zeit, deshalb heißen sie Kipppunkte. Denn ich glaube, dass man als Künstler, als Autor, als Literat zu aktuellen Dingen in irgendeiner Form Stellung nehmen sollte. Und in dieser Form von Statements kann ich es halt.» Kurz, prägnant und direkt, das ist das künstlerische Motto der Publikation, die zwar vom Format klein aber durchaus groß in Wirkung und Anspruch ist. «Die Kipppunkte haben den Hintergrund, dass es möglicherweise Entwicklungen gibt, ob das jetzt das Klima ist oder andere beunruhigende Geschichten, wo dieser Punkt kommen kann, an dem etwas kippt, ein Point of no Return, an dem etwas nicht mehr zurückgenommen werden kann.» Stefan Zefferer ist «eigentlich gelernter Buchhändler. 17 Jahre lang habe ich mit Kollegen auch einen Verlag betrieben und einige Bücher herausgebracht. Jetzt stehe ich als Autor quasi auf der anderen Seite.» Er hat vier Kinder, «auf die ich unglaublich stolz bin, dass es sie gibt». Auch sie sind ein Grund, Dinge aufzuzeigen.

Im Unruhestand.

«Die Idee ist im Grunde genommen im Kaffeehaus entstanden», erinnert sich Michael Maicher, der sich nach gut 20-jähriger freiberuflicher Tätigkeit jetzt im «Unruhestand» befindet. «Ruhestand kann ich nicht sagen, weil meine künstlerische Tätigkeit mittlerweile fast mehr Zeit erfordert als mein damaliger Brotberuf.» Neben seiner Arbeit als Maler ist Maicher auch als Autor tätig: «Ich schreibe fast ausschließlich Lyrik. Das habe ich schon früher gemacht, es dann aber über weite Strecken mehr oder weniger versumpfen lassen, weil die banalen Alltagsanforderungen da waren, wie etwa Nestbau mit Familie und Kind.» Für Maicher war es nicht zuletzt interessant, Texte zu illustrieren, die nicht aus seiner Feder stammen. «Im Pazzo habe ich immer ein Notizheft dabei, und zwischendurch, wenn es meine Finger für notwendig halten, mache ich irgendwelche Striche ins Heft. Oft sind es auch kleine Zeichnungen. Dann habe ich Stefans Texte gelesen und mir gedacht: Okay, probieren wir das einmal, auf meine schräge Art. Nicht direkt im Realismus, das mache ich ganz, ganz selten, wenn ich etwas illustriere, sondern eher abstrakt. Ich lese den Text, dann kommt manchmal eine Stimmung oder ein Gefühl auf, und das versuche ich dann auf meine Art und Weise umzusetzen. Das kann vielleicht nicht jeder nachvollziehen, wenn er es betrachtet, weil das zwei verschiedene Paar Schuhe sind. Manchmal haben wir uns ausgetauscht, aber es war immer ein gemeinsamer Prozess.» Stefan Zefferer sieht die Entstehungs­geschichte ähnlich: «Der Michael ist in diesem Fall ein Opfer», sagt er schmunzelnd. «Ich habe ihn mit meinen Texten und dieser Idee überfallen, und er hat innerhalb kürzester Zeit, in ein paar Monaten, für die Kipppunkte an die 150 Zeichnungen gemacht, die ich allesamt für hervorragend halte und die meiner Meinung nach die enthaltenen Kurz- oder Kürzesttexte enorm aufwerten.»

Punkte, an denen etwas kippt.

Der Auslöser, der für die Entstehung eines neuen Hefts verantwortlich ist, ist «unvorhersehbar», sagt Stefan Zefferer. «Ich habe jetzt zum Beispiel etwas ganz Spannendes im Wald entdeckt. Es geht um Bäume und ihre Heilkraft. Daraus ist ein Hexentext entstanden, der vielleicht auch einmal gedruckt und bebildert wird. Es kann auch sein, dass mir drei, fünf, zehn Gedichte einfallen, in irgendeiner Lebensphase, dann gibt es dazu etwas. Meistens hat es irgendeinen Trigger aus dem Realen heraus, und ich versuche eine Übersetzung ins Sprachliche.» Daher kann es sein, dass es in einem Monat drei Hefte gibt und dann ein halbes Jahr keines. Die angesprochenen Punkte, an denen etwas kippt, versucht Stefan Zefferer in literarischer Form zu benennen. «In der ersten Ausgabe gibt es etwa Polareisschmelzwasserkipppunkte, Amazon­rainforestkipppunkte, Methangaskipppunkte oder Golfstrombewegungskipppunkte. Also all diese Meldungen, die immer wieder in den Medien auftauchen.» Im Lauftext heißt es: «Bilder steigen auf, nehmen dich ein. Bilder, die du nicht schauen möchtest. Sie stehlen sich davon. Hinter eine Mauer. Sterbebilder. Folterbilder. Leichenbilder. Tränenbilder.»
Die 10. Ausgabe der Kipppunkte, die sich als Allgemeine Erklärung der Rechte der ERDE versteht, ist beispielsweise dem Gorilla Koko gewidmet, der «leider schon gestorben ist und in Gebärdensprache die Menschen darauf aufmerksam machen wollte, auf den Planeten aufzupassen», erklärt Stefan Zefferer. Finanziert wird jede Produktion in Eigenregie. Als Lektorin eingebunden ist Elisabeth Ropatsch, die im Pazzo arbeitet und als Erste mit neuen Ideen konfrontiert wird. «Sie ist eine hervorragende Lektorin und bügelt meine Fehler frühzeitig wieder aus. Bei allem geht es nicht in erster Linie ums Geschäft, sondern darum, dass die Sachen auf die Welt kommen dürfen und in diesem Geworden-Sein auch wirksam sein können.»

Afghanistan.

Nach zehn Ausgaben war für Michael Maicher eine kleine Pause fällig. Genau zu diesem Zeitpunkt hatte Stefan Zefferer die Idee zu einem Heft mit Afghanistan-Schwerpunkt. «Dazu wollte ich nichts zeichnen», sagt Maicher. «Das hat nicht den Grund, dass ich ein Ignorant bin. Für mich wäre das in der ganzen Phase, in der  Situation nicht stimmig gewesen, ich hätte das nicht machen können.» Im Heft sind deshalb keine Illustrationen zu finden, sondern Fotos, die in verschiedenen afghanischen Städten entstanden sind. «Die Bilder sind mit einem Handy aufgenommene Spaziergehens-Asphalt-Regen-Schwarz-Grau-Bilder», beschreibt Stefan Zefferer. «Wenn man im Regen über den Asphalt spaziert und zu Boden schaut, dann sind da manchmal weiße Steinchen im schwarzen Asphalt eingeschlossen. Sie haben eine Morphologie, eine Gestalt. Nachdem das Afghanistan-Thema so dramatisch geworden ist und es in unserem Bekanntenkreis sehr, sehr viele liebenswürdige Menschen gibt, die aus diesem Land stammen, und auch eine afghanische Gemeinschaft in Kärnten, die jetzt Geld sammelt für Menschen, die in Afghanistan zum Beispiel in Familien alle Männer verloren haben, weil sie ermordet wurden, habe ich versucht, ein symbolisches Heft zu machen. Es ist eine Ausgabe mit sehr viel schwarz, weil es eine traurige Geschichte ist, die dort passiert.» Zwei Euro vom Verkaufspreis jedes Heftes gehen außerdem an die afghanische Gemeinschaft: «Das ist nicht viel, aber immerhin eine klare Zeichensetzung.»

www.kipppunkte.at