Guido T. - vom Kinderheim zur Seefahrt, vom Einbrecher zum Bauleiter
Nach einer versauten Jugend ist er Seemann geworden, dann Einbrecher und schließlich Baustellenleiter in Nigeria und Saudi Arabien; einst Kleinstadtstrizzi und vielsprachiger Abenteurer, lässt er im Alter zu, dass ihm die tiefen Wunden seiner Kindheit bewusst werden. Bernhard Odehnal wollte den Zürcher Guido T. eigentlich nur zu einem Gespräch über seine Zeit im Kinderheim treffen. Daraus wurde aber ein Buch über alle «Sieben Leben des Guido T.»
Foto: Guido T./Echtzeitverlag
«Ich brauche eine irre Überwindung ihnen zu schreiben», setzt Guido T. an, «zwar kann ich bis heute noch nicht gut schreiben, in ihrer Schule hab ich es ja nicht gelernt.» Dort sei es nämlich vorrangig gewesen, Kinder zum Arbeiten und zum Beten zu zwingen. Er fährt fort zu beschreiben, durch welche gewalttätige Behandlung ihm im Kloster Fischingen im Schweizer Kanton Thurgau die Jugend kaputt gemacht wurde. Er sei «am Boden zerstört» und wisse nicht mehr weiter; «aber eines will ich ganz sicher noch tun: beschreiben, wer und was mein Leben versaut hat.» Siebzig Jahre alt ist Guido T., als er diese Zeilen schreibt, mehr als fünfzig Jahre sind vergangen, seit er das Kloster verlassen hat.
Heimkinderskandal, klingelt es schon bei den ersten Zeilen, und man liegt nicht ganz falsch damit. Bernhard Odehnal hat Guido T. tatsächlich bei Recherchen zu Gewalt gegen Kinder im Kloster Fischingen kennengelernt, die er 2012 für den Schweizer «Tagesanzeiger» machte. Er interviewte dafür ehemalige Klosterkinder, veröffentlichte mehrere Artikel und erhielt eine Zuschrift von Guido T.: «Mein Leben war von A bis Z eine Katastrophe. Inwiefern meine Jugend schuld daran ist lass ich dahin gestellt.»
Als Guido T. dann aus seinem Leben erzählt, eröffnet sich schnell eine ganz unglaubliche Bandbreite an Kulissen. Und so hat Bernhard Odehnal ihn wiedergetroffen, und wieder, und noch einmal. Er hat aus den «Sieben Leben des Guido T.» ein Buch gemacht, das seinen märchenhaften Titel verdient. Denn wie jedes Märchen ist es ein bisschen unglaublich, voll großer Überraschungen und nicht immer nur schön. Und weil es nicht erfunden ist, ist es eben wahr.
Vom Sandstrand träumen – ein Leben auf hoher See
Das Cover des Buches könnte genauso gut ein Entwurf für das «Gold»-Album von Steppenwolf sein. Einer, der besser gelungen ist und doch verworfen wurde – niemand weiß mehr, warum. Zwei junge Männer lehnen bzw. sitzen, die Hemden geöffnet, die Haare vom Wind geküsst, auf einem Mercedes, am Rand einer staubigen Straße, in einer Gegend, in der das Klima Palmen wachsen lässt. Das muss irgendwann in den 1970er-Jahren sein. Da fährt Guido, am Ende eines zweiten Gefängnisaufenthalts zum Maler ausgebildet, über eine Verkettung von Zufällen (aber daraus besteht schließlich jedes richtige Leben) mit einer Rümlanger Baufirma nach Nigeria, um am Aufbau einer Wohnsiedlung mitzuarbeiten, die für das «Second World Black and African Festival of Arts and Culture» von Präsident Olusegun Obasanjo in Auftrag gegeben wird. Klingt unglaublich? Und wenn schon! Auch was das mit Muhammad Ali zu tun hat und warum die illegalen Waffenlieferung einer Schweizer Firma an die nigerianischen Truppen im Biafra-Krieg über viele Umwege dazu geführt haben, dass Guido T. nicht im offenen Vollzug bleiben konnte, erfährt, wer Odehnals Buch liest.
Aber spulen wir ein paar Jahre zurück zu dem Zeitpunkt, zu dem Guido nicht nur die Klosterbelegschaft mit ihren Brutalitäten, sondern auch die Familie mit ihrer Gewalt und ihrer Trauer hinter sich lässt, um Seemann zu werden. Klingt romantisch? Das dachte der frischgebackene Messboy wohl auch. «Im Zug nach Rotterdam träumt Guido von einer Weltreise als Matrose, von Sandstränden und karibischen Nächten. Dummerweise geht die erste Reise aber gar nicht nach Tahiti, wie er zuerst verstanden hat. Und dummerweise muss er die schlechteste und undankbarste Arbeit an Bord machen.» Trotzdem sollte Guido T. eine gewisse Leidenschaft zum Seemannsgarn entwickeln, wird seine eigenen Erfahrungen mit Freundschaften an Bord, mit Sexarbeit im Hafen und mit der «Rassentrennung» in New Orleans machen, die ihm niemand mehr nehmen kann.
Tricksen lernt, wer nicht anerkannt wird
Mit 22, einem Alter, in dem andere sich langsam dem Erwachsenwerden hingeben, gibt Guido die Seefahrt schon wieder auf. Zieht zurück nach Zürich, wird Einbrecher. Wie man das macht? «Solche Menschen wie ich suchen ihresgleichen. Die finden sie aber nicht in den Quartierbeizen, wo jeder mit seinem Beruf angibt: Der eine ist bei Oerlikon-Bührle, der andere bei BBC. Da merkte ich gleich: In dieser Gesellschaft habe ich nichts verloren. Dann ging ich in die Bars an die Langstrasse und höret sofort: Ah, hier sprechen sie meine Sprache. Die machen Fehler beim Sprechen und keiner stört sich daran.»
Es gibt keinesfalls einen Automatismus, der jene, die sich in der Kindheit gegen Gewalt und Autoritäten durchkämpfen müssen, zu Kleinkriminellen macht. Aber was so ein Kind in der Not lernt, kann durchaus später zur Karriere gereichen: «Das Wichtigste für mich war das Kinderheim im Kloster Fischingen. Dort habe ich gelernt, wie ich innert Sekunden jedes Schloss öffnen kann. Die Seefahrt war mir im Milieu eher hinderlich, weil die Seefahrer ein anständiges Volk sind.» In den Seefahrerkneipen sei er nach seinem Häfenaufenthalt auch gar nicht mehr so gern gesehen gewesen. Die dort sitzen, meint Guido, kämen aus «geordneten Verhältnissen». «Ich will damit meine Taten nicht entschuldigen. Aber es ist einfach so. Leute mit einer beschissenen Jugend haben ein anderes Leben. Du versuchst Dein Bestes zu geben – es genügt nicht. Dann versuchst du es mit Tricks.»
Gemeinsam mit zwei Freund_innen wird Nacht für Nacht geknackt: Tresore, Restaurants, dazu Fluchtautos – manchmal so ökonomisch, dass das Auto noch in derselben Nacht unbeschadet zurückgebracht werden konnte. Eine Freundlichkeit, die keinen Straferlass mit sich bringt. Irgendwann ist damit Schluss. Hat jemand sie verraten? War die Polizei geschickt genug? Jedenfalls steht die eines frühen Morgens im Schlafzimmer, und ein sich die Augen reibendes Trio wandert in den Knast. Zwei reden sich frei, einer bleibt drin. Kommt raus, führt ein kurzes Leben in Freiheit, geht wieder sitzen. Unverschuldet, sagt er zu Bernhard Odehnal. Für nichts verpfiffen.
Ein schönes Leben haben, trotz allem
Wir spulen wieder vor, zu der Szene am Cover. «Guido ist jetzt 33 Jahre alt», resümiert Odehnal bei etwa zwei Drittel des Buches, «er war vier Jahre im Kinderheim, drei Jahre auf hoher See, drei Jahre Einbrecherkönig in Zürich und vier Jahre im Gefängnis. Jetzt wird er zum Vertrauten eines mächtigen Clanchefs in Nigeria. Er hat ein eigenes Haus mit Garten, einen Dienstwagen und eine Köchin. Er fühlt sich wie ein «König im eigenen Reich».» Vom Maler und Monteur wird er zum Baustellenleiter, lernt neben Englisch noch Französisch, Hausa und Arabisch, konvertiert zum Islam (nicht als Racheakt an der katholischen Kirche, sondern um mit der Frau, die er liebt, zusammenleben zu können – aber man kommt nicht umhin, sich beim Lesen so etwas wie «Ätsch, ihr Schweine» zu denken); bekommt bessere Jobs, mehr Geld, verfällt der «Baustellenkrankheit», dem Alkoholismus. Aber auch da zieht er sich aus eigenen Kräften wieder raus. Ein Wundermensch. Einer, dessen Gesellschaft man sich wünscht, einer, dessen Geschichten man lauschen möchte. Und wenn er erzählt und es glaubt ihm wer nicht, dann denkt er sich: «Küsst mich doch hier, ich muss euch nichts beweisen.»
Bernhard Odehnal kann man indes getrost gratulieren zu seiner Einschätzung, in Guido T. säße ihm jemand ganz Besonderer gegenüber, den wiederzutreffen sich lohne. Und auch zu seiner feinen Art, aus Guidos Erzählungen eine Biographie zu machen, die von Gewalt nicht als auflagensteigerndem Skandal spricht; sondern als möglichem Teil eines Lebens, aus dem trotzdem noch etwas sehr Schönes werden kann.
Bernhard Odehnal: Die sieben Leben des Guido T.
Echtzeit 2014, 176 Seiten, 24 Euro
www.bernhardodehnal.com