Postkarten aus Jedleseevorstadt

Foto: Weyna Zhao

Seit über zehn Jahren wohne ich in Jedlesee, auf der «anderen» Seite der Donau. Wenn ich mich gegenüber innerstädtischen Hipstern als Wahlfloridsdorferin oute, reagieren die meisten so bestürzt und mitleidig, als ob ich gesagt hätte, ich wohne in Tschernobyl. Dabei finde ich es hier ziemlich super.

Entstanden ist das einstige Dörfchen «Outcinesseuue» vor mehr als 1.000 Jahren. Wie sich der Name durch etliche Lautverschiebungen und mundartliche Rechtschreibungen zu «Jedlesee» wandelte, überlasse ich mal der Fantasie – jedenfalls taucht der Ort zum ersten Mal urkundlich 1014 auf, als Kaiser Heinrich II. ihn einem Passauer Bischof schenkte. Lange Zeit war die Gegend auf Grund der häufigen Überschwemmungen nicht sehr beliebt, obwohl es hier jahrhundertelang eine der wenigen Donauüberquerungsmöglichkeiten gab, um nach Wien zu gelangen. Daran erinnert heute noch die Überfuhrstraße, die einst zur Fähre nach Nussdorf führte und jetzt in die Jedleseerbrücke mündet, die allerdings auf der Donauinsel im Kirschenhain endet.

Vom Flug- zum Segelhafen

Ich bleibe erstmal auf meiner Uferseite und gehe stromaufwärts zum Segelhafen, wo seit einiger Zeit kuriose Inlineskatelangläufer_innen sich zu Gruppen-Gleichgewichtsübungen treffen. Synchron strecken sie einen Fuß nach hinten und balancieren mit Stecken in der Hand auf einem Rollski und halten dabei genauso still wie die zwei Fischer am Ufer, die sich wohl an diesen akrobatischen Anblick bereits gewöhnt haben. Kurz vor der Abenddämmerung ertönt ein Froschkonzert, zwei kleine Segelboote üben sich im Kurvenfahren. Kaum vorzustellen, dass hier einst der internationale Flugverkehr in Österreich startete! 1923 landete die erste Maschine der Österreichischen Luftverkehrs AG aus München auf dem Land- und Wasserflugplatz Jedlesee. Ein Jahr lang wurden sechs Mal die Woche Budapest und München angeflogen, bevor die AUA Vorläuferin nach Aspern übersiedelte.
Unter einer Silberweide setze ich mich ans Ufer und versuche nicht daran zu denken, dass vorgestern eine über ein Meter lange Ringelnatter an meinen Füßen vorbei in die Donau gekrochen und wie das geschwungene Band einer rhythmischen Gymnastikturnerin über die Wasseroberfläche geglitten ist. Ich verdränge meine Schlangenphobie und gehe ins Wasser. Die Sonne verschwindet zwischen dem Kahlenberg und Leopoldsberg, und ich lasse mich treiben.

Rossschwemme und Häufl

Bis in die 1960er konnte man nicht nur in der Donau, sondern auch in den zahlreichen Lacken baden, die das Ortsbild Jedlesees und der angrenzenden Schwarzlacken­au prägten. Entstanden sind sie durch die Donauregulierung 1875, die den Seitenarm Schwarze Lacke vom Hauptstrom abtrennte. In den Jedleseer Veduten erinnert sich der Chronist Franz Polly an seine idyllische Kindheit in den Lacken am «Häufl»: «Im Schilf-‹Dschungel› spürten wir den Rohrhühnern und Duck-Enterln nach, beobachteten die zierlichen Molche mit ihren orangeroten Bäuchen, die sich träge am Grunde des kristallklaren Wassers bewegten, und die langbeinigen Rückenschwimmer, die in schnellem Zick-Zack das Wasser durchfurchten. Was gab es da nicht alles zu sehen, und vieles von dem Geschauten habe ich erst Jahre später verstehen gelernt.» Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die Lacken allmählich mit Bombenschutt aufgefüllt, sodass heute nur noch eine Gstettn übrig geblieben ist.

Herrschaftliches Brauhaus zu Jedlesee

Wenn man heute am Lorettoplatz, dem einstigen Zentrum Jedlesees steht, fühlt es sich immer noch ein bisschen so an, als wenn man in einem Dorf wäre. Gegenüber der Maria-Loretto-Kirche wurde vor einigen Jahren das aus dem 17. Jahrhundert stammende «Schlössl», das einstige Herrschaftshaus Jedlesees renoviert. Zu seinen wichtigsten Besitzern zählte Anton Freiherr von Störck, Leibarzt Maria Theresias. 1778 kaufte er sich die Herrschaft, baute die Pfarrkirche aus, errichtete die erste Schule und gründete 1787 eine Brauerei, die wesentlich zum Wachstum der Ortschaft beitrug. Das Braugewerbe prägte im 19. Jahrhundert die Entwicklung Jedlesees und ist heute noch in den Straßennamen verewigt: Hopfengasse, Anton-Störck-Gasse, Anton-Bosch-Gasse, Anton-Dengler-Gasse. Die letzten beiden Antons waren die Brauereibesitzer von 1815 bis 1900. Anton Boschs Bier war angeblich in ganz Wien so beliebt, dass es trotz der monatlich erzeugten 10.000 Eimer nie ausreichte, und sein Enkel Anton Dengler erbaute 1877 in Langenzersdorf einen der größten Bierlagerkeller Europas. Von den zahlreichen Gebäuden des Großbetriebs auf der Prager Straße ist nur noch das ehemalige Braugasthaus «Zum Gambrinus» übrig, es thront wie ein Geisterschloss an der Ecke Hopfengasse/Prager Straße und beherbergt heute ein orientalisches Restaurant und eine christliche Sekte.

Einladung in den Zaubergarten

Neben dem Bier war auch der Bau der Prager Straße 1728 ausschlaggebend für die Entwicklung des Ortes. Der einstige Charme der kutschenbefahrenen, von Bäumen umsäumten Hauptstraße ist allerdings gänzlich verloren gegangen. Leerstehende Autohäuser und gesichtslose Wohnblöcke können da nur schwer mithalten. Inmitten von diesen Nicht-Orten erspähe ich an einem sommerlichen Spätnachmittag ein Gesicht, das ich seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen habe. Überrascht frage ich Ken, was er denn ausgerechnet hier mache, wenn er doch eigentlich mittlerweile in Hongkong lebt. Er sei in Jedlesee aufgewachsen, nachdem seine Familie nach der Flucht aus Kambodscha von der Pfarre Loretto
aufgenommen wurde. Sein Bruder wohnt immer noch ums Eck in einem Haus mit einem großen Garten. «Warte, ist es der mit den hunderttausend Blumen, die zu jeder Jahreszeit blühen und Früchte tragen, als ob alles verzaubert wäre?», frage ich ihn aufgeregt. «Ja genau.»
Ein paar Tage später treffe ich Kens Bruder Min in seinem Zaubergarten. Ich frage ihn, ob er sich noch erinnern kann, wie es war, in Jedlesee aufzuwachsen. Er war sechs, als seine Familie 1980 nach drei misslungenen Fluchtversuchen endlich in Österreich ankam. Sie waren im Schlössl untergebracht, das seit 1945 als Pfarrhaus diente. Die Pfarrgemeinde hätte ihnen viel geholfen, bei der Arbeitssuche und in der Schule. Mit einigen von ihnen ist er heute noch oft in Kontakt.

Erinnerungen

Fünf Minuten später sitzen wir bei Erna und Hans in der Stube, gemeinsam mit Min erzählen sie vom ersten Winter der Familie in Jedlesee, wo die Kinder voller Verwunderung barfuß durch den Schnee gelaufen sind. Daraufhin haben sie sie mit Moonboots ausgestattet. Noch in Mins Kindheit gab es in der Nachbarschaft viele Greißler_innen, auf seinem Schulweg hat er sich oft Süßigkeiten beim Bäcker geholt, dessen Geschäftslokal nun seit Jahren leer steht. Ich frage, wie sich die Gegend sonst noch verändert hat, und Erna, die in dem Haus zur Welt kam, in dem wir jetzt sitzen, beginnt zu erzählen. Auch ihre Familie landete nach einer Flucht in Jedlesse, sie waren Sudetendeutsche und wurden 1945 vertrieben. Sie erinnert sich noch gut an die vielen Teiche vor ihrer Haustür, bis 1954 gab es noch regelmäßig Hochwasser, und manchmal haben sie als Kinder den Waschtrog als Boot zweckentfremdet. Ihren Mann Hans lernte sie bei einem Filmabend in den Lichtspielen im Arbeiterheim Floridsdorf kennen, aus Liebe zog er dann aus der Innenstadt zu ihr. Hans erinnert sich, wie Straßenbahnschienen vor ihrem Haus gelegt wurden, um die Lacken mit Schutt zu befüllen. Die Gegend wurde während dem Krieg stark bombardiert, weil sich hier ein wichtiges Rüstungswerk befand, in dem Häftlinge des KZ-Außenlagers Jedlesee Zwangsarbeit leisten mussten. Auf Grund des vielen Sperrmülls, der eingegraben wurde, gab es bis in die 1970er-Jahre Probleme mit der lokalen Trinkwasserversorgung. Jede Familie hatte ihren eigenen Brunnen, und viele hatten Nutztiere, wie Schweine, Ziegen oder Hasen. Auf der Lorettowiese, wo sich jetzt ein Kinderspielplatz und ein Skatepark befinden, grasten früher die Kühe.

Urwald und Meer

Voll bepackt mit Eindrücken von der Reise in die Vergangenheit verabschiede ich mich und beschließe noch einmal kurz in die Donau zu springen. Ich komme am Aupark vorbei, dessen Name eine absolute Untertreibung ist, denn er ähnelt mehr einem Urwald voll mit Lianen. Jedes Mal scheine ich mich darin zu verlaufen und komme an einer anderen Ecke wieder heraus. Einer der wenigen Anhaltspunkte ist das O’Brien-Denkmal, ein Obelisk am Nordrand des Waldes, der an eine gewonnene Schlacht gegen Napoleon erinnern soll. Heute gehe ich allerdings den Südrand entlang, der an einen Gemeindebau grenzt. Der starke Kontrast zwischen dem dichten, dunklen Wald und der Wohnanlage erzeugt eine seltsame Stimmung. Ich krame nach meiner Kamera, um sie festzuhalten, plötzlich sitzt ein großer Feldhase mit aufgestellten Ohren am Weg und starrt mich an. Mist, zu spät, meine Kamera fängt nur noch das Weghoppeln ein. Vielleicht erwische ich dafür nachher ein paar Schwäne am Wasser.
Nach dem Schwimmen spaziere ich barfuß und mit nassen Haaren nachhause und fühle mich fast wie in einem Dorf am Meer. Mit ein bisschen Fantasie könnte die Geräuschkulisse der Donauuferautobahn auch das Wellenrauschen sein.