Kafkaeske Jagd
Neben KünstlerInnen wie Dieter Chmelar, Daniela Gaets, Adi Hirschal und Günther Mokesch unterstützte am 13. Dezember auch der stellvertretende NEWS-Chefredakteur Karl Wendl den „Tag der freien Fahrt“. Gemeinsam mit AUGUSTIN-VerkäuferInnen besetzten die Prominenten am Südbahnhof einen D-Wagen, um demonstrativ zum Rathaus schwarz zu fahren. Ihre Forderung: Freie Fahrt für Obdachlose und SozialhilfeempfängerInnen! Karl Wendl stellte sich für den AUGUSTIN als Gast-Reporter zur Verfügung:Es war zu Weihnachten vor einigen Jahren, und ich arbeitete als Reporter für den Kurier. Der Job, den ich für das Weihnachtswochenende zu erledigen hatte, war ein vermeintlich einfacher. Ich sollte einen Exekutor auf seiner Tour durch Wien begleiten, eine Art Bestandsaufnahme des irdischen Elends. 24 Stunden im Leben eines Jägers, war der Arbeitstitel für die Reportage. Zuerst exekutierte Herbert, so hieß der beamtete Geldeintreiber, eine kinderreiche Familie. Der Vater hatte wahllos per Katalog Elektrogeräte bestellt, die horrenden Rechnungen aber nie bezahlt, oder nur schleppend. Danach schauten wir bei einer recht hübschen Zahnärztin vorbei; die Jungunternehmerin hatte Schulden bei der Krankenkasse. Sie zahlte.
Zuletzt schwemmte uns die Geldeintreibe-Pflicht ins Obdachlosenheim in die Meldemann-Straße. Es ging darum, von einem Sandler, der beim Schwarzfahren in der U-Bahn erwischt worden ist, die Strafe einzutreiben. Ich erinnere mich noch recht genau, es waren rund 3000.- Schilling, die der Exekutor von dem Obdachlosen haben wollte – ein völlig sinnloses Unterfangen. Wir trafen den Schuldner, er konnte nicht zahlen, alles andere wäre eine Überraschung gewesen.
„Weshalb sind Sie dennoch hingefahren“, wollte ich vom Exekutor wissen, und der gab eine überraschende Antwort: „Warum sollen Menschen, die, aus welchen Gründen auch immer, in einen elendiglichen Zustand geraten sind, gesetzlos leben dürfen?“, sagte er, als wir das Heim wieder verließen, um unsere kafkaeske Jagd fortzusetzen.
17 Schilling hätte dem Obdachlosen damals das Ticket für die U-Bahn gekostet. Weil er die 17 Schilling nicht hatte, fuhr er schwarz, dabei wurde er erwischt: 440.- Schilling Strafe. Wegen Nichtbezahlung wurden drei Tage danach 900.- Schilling gefordert. Ein halbes Jahr später erfolgte die erste Mahnklage: 500.- Schilling zusätzlich. Ein Jahr später folgte der erste Exekutionstitel: 600.- Schilling kamen dazu. Wieder ein Jahr später der zweite Exekutionstitel: Abermals 600.- Schilling. Innerhalb kürzester Zeit sind also für den Sandler 3000.- Schilling Schulden angewachsen, der Exekutor war drei Mal in der Meldemannstraße, herausgekommen ist dabei nichts, außer der Möglichkeit, daß der Exekutor vielleicht Mitleid mit dem Sandler gehabt haben könnte, aber der Sandler spürte nichts davon. Mit jedem Besuch des Geldeintreibers wurden die Schulden des Obdachlosen größer, die Wahrung der Würde des Mannes schwieriger.
Am 13. Dezember dieses Jahres wurde ich an das Beispiel von damals erinnert. An diesem Tag traf ich Dutzende Sklaven des Lebens: Im D-Wagen fuhren Obdachlose vom Südbahnhof zum Rathaus. Sie fuhren demonstrativ
schwarz, wie an jedem 13. eines Monats. Mit diesen Demonstrationen wollen sie darauf hinweisen, daß Sozialhilfeempfänger keinen Anspruch auf einen Sozialpaß und damit auch keine Chance zum Erwerb einer ermäßigten Monatskarte haben. Studenten, Pensionisten, Behinderte, alle erhalten Fahrpreisermäßigungen, für Obdachlose gilt das nicht, denn obdachlos zu sein ist ein „Nullzustand“.
Bevor wir die Haltestelle „Oper“ erreichten, stellte sich eine ältere Frau nahe den Stufen, machte sich zum Aussteigen bereit. Sie war schwarz gekleidet, die Rockfalten bewegten sich fast nicht, ihre linke Hand hielt sie flach an die Wand, der Schirm in ihrer Rechten stand auf der zweitobersten Stufe: „Sozialschmarotzer“, zischte sie, als sie ausstieg und der D-Wagen weiter in Richtung Rathaus fuhr.
Neben mir saß ein etwa 50jähriger, er lebt am Westbahnhof, seit Jahren. Manchmal komme der Exekutor auch am Bahnhof vorbei, wedele mit blauen Briefen. Exekutionstitel der Verkehrsbetriebe. Fast alle Obdachlosen der Stadt seien bei den Verkehrsbetrieben verschuldet, behauptet mein Sitznachbar, manche hätte inzwischen bis zu100.000.- Schilling Schwarzfahrer-.Schulden angehäuft.
Eine Rehabilitation dieser Menschen ist unmöglich, nie werden sie diese Schulden abtragen können. Selbst mit gewollter Energie ist ein „sich Erheben“ aus diesem Zustand ein kaum machbares Unterfangen. „Reintegration“ ist ab diesem Zeitpunkt nur mehr ein akademischer Begriff, als letzter Schritt bleibt nur mehr der Abstieg ins Kriminal. Verbüßung der Verwaltungsstrafen im Gefängnis. Die Schulden selbst werden dadurch nicht geringer.
Es ist, wie in Kafkas kleiner Fabel von der Maus: „Mit jedem Tag“, sagte die Maus, „wird die Welt enger. Zuerst war sie so bereit, daß ich Angst hatte, ich lief weiter und war glücklich, daß ich endlich rechts und links in der Ferne Mauern sah, aber diese Mauern eilen so schnell aufeinander zu, daß ich schon im letzten Zimmer bin, und dort im Winkel steht die Falle, in die ich laufe“ – Du mußt nur die Laufrichtung ändern“, sagte die Katze und fraß sie.