Wien bekommt sein erstes queeres Jugendzentrum. Es steht in Ottakring – so viel ist klar. Aber was kann an Jugendarbeit queer sein?
«Willkommen», steht mit bunten Filzstiften auf ein Flipchart-Papier am Eingang der noch recht leeren Halle geschrieben: «Schön, dass du da bist!». Darunter die ersten Regeln. «Abwertende und verletzende Kommentare und Hasskommentare sind keine Meinung und werden nicht toleriert» und: «Respektiere, wie jemand angesprochen werden möchte.» Letzteres bezieht sich auf die Frage der Pronomen, also, ob eine Person sich zum Beispiel als «er», «sie» oder ein aus dem Englischen entlehntes «they» bezeichnet oder am liebsten ganz ohne Pronomen auskommt und einfach beim Namen genannt werden möchte. Für manche Alltag, für andere Neuland. Darum steht hier auch: «Wenn du dir nicht sicher bist, frag nach.»
Regeln sind fraglos wichtig fürs Zusammenleben. Sie sind dazu da, dass der gemeinsam genutzte Raum möglichst sicher und angenehm für alle Beteiligten ist, und sie verhelfen zu Klarheit: Was geht und was geht nicht, welche Konsequenzen hat mein Verhalten für mich und andere? Das gilt im öffentlichen Raum genauso wie in der Familie, in der U-Bahn, in der Arbeit oder eben in Wiens erstem queeren Jugendzentrum, das heuer in der Ottakringer Fröbelgasse seine Pforten öffnen wird.
Keinen Tag zu früh
Momentan ist der Raum noch spärlich eingerichtet, aber gut geheizt, die Wände sind weiß gestrichen, der industrielle Charme einer Parkgarage ist noch spürbar. Früher wurden hier Mofas verkauft, erzählt Luca Flunger. Flunger hat die Geschäftsführung des Trägervereins Q:WIR inne. Ausgebildet in der Sozialarbeit mit Erfahrung in der offenen Kinder- und Jugendarbeit, ist Flunger startbereit für dieses große, völlig neue Projekt. «In den letzten Jahren ist die Sichtbarkeit von queeren Jugendlichen stärker geworden. Sie werden lauter und fordern mehr ein. Und so wie alle Menschen haben auch sie einen Safer Space verdient, also finde ich, wir können keinen Tag zu früh eröffnen.»
De facto wurde im Koalitionsübereinkommen zwischen NEOS und SPÖ festgeschrieben, dass in Wien Infrastruktur für queere Jugendliche entstehen soll. Eine Bedarfsanalyse im Auftrag der Wiener Antidiskriminierungsstelle für LGBTIQ-Angelegenheiten, veröffentlicht im Juni 2022, spricht im Kapitel Empfehlungen eine deutliche Sprache: «1.: Es sollte ein eigenes queeres Jugendzentrum in Wien errichtet werden.» Die Stadt Wien nahm den Rat ernst und schrieb das Projekt aus. Luca Flunger leitete damals das Regenbogenfamilienzentrum: «Wir hatten das Glück, das unser Konzept zur Umsetzung eingeladen wurde.»
Jugendzentren gibt es in Wien viele – explizit queer ist davon bisher keines. In Deutschland, wo die Strukturen der Jugendarbeit sich von Österreich stark unterscheiden, wurde das erste queere Jugendzentrum 1998 gegründet: das anyway in Köln. Es entstand aus der lesbischen Jugendgruppe Bad Girls und der schwulen Jugendgruppe Boy Trek – die Gruppen waren innerhalb weniger Jahre so stark gewachsen, dass der Bedarf für die Stadt nicht mehr zu übersehen war. Dem anyway hat die Truppe rund um den Verein Q:WIR schon einen Besuch abgestattet. «In Deutschland gibt es auch eine Menge an Jugendprojekten und pädagogischen Angeboten innerhalb von queeren Communityzentren. Und auch in Graz gibt es mit dem Feel Free, das die Rosa Lila PantherInnen 2023 eröffnet haben, sehr viel Angebot für queere Jugendliche», erzählt Luca Flunger. «Aber so etwas, wie wir es machen, gibt es noch nicht.»
Queer Peers
Was unterscheidet nun ein queeres von einem anderen Jugendzentrum? «In Wirklichkeit nicht so viel: Es ist ein freizeitpädagogisches Angebot, das immer freiwillig, niederschwellig und kostenlos ist. Ein Ort, an dem man abhängt», sagt Flunger. «Bei uns ist die Besonderheit, dass die Zielgruppe queer ist, also LGBTIQA+, ihre Freund:innen, Menschen, die der queeren Community nahestehen, und Jugendliche, die in Regenbogenfamilien aufgewachsen sind. Und auch ‹questioning people›, also Personen, die noch nicht sicher sind, wie und ob sie sich zuordnen wollen, gehören dazu.» Türsteher:innen, die kontrollieren, wie queer eine Person ist, werde es keine geben, lacht Flunger. «Der Raum soll offen für alle sein. Es gibt aber eine Niedrigtoleranz gegenüber diskriminierendem Verhalten. Die Peers, die jetzt hier sind, sind sehr bedacht darauf, klare Hausregeln aufzustellen.»
Nicholas (Name v. d. Red. geändert) kennt den Unterschied zwischen allgemeinen und explizit queeren Jugendräumen aus eigener – nicht nur angenehmer – Erfahrung. Er ist Anfang zwanzig und Teil der Peergroup von Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die den Aufbau des neuen Jugendzentrums gestaltet. Von dieser Möglichkeit hat er über einen Instagram-Post erfahren, «und da habe ich mir gedacht, das könnte interessant für mich sein und wäre ein Schritt in Richtung mehr Selbstvertrauen. Ich habe mir gesagt, es kann ja nicht schaden, sich das Ganze mal anzuschauen.» Nicholas beschreibt sich selbst als schüchtern, er sei keiner, der «gern allein irgendwo reinspaziert». Die Fröbelgasse ist für ihn nicht gerade ums Eck, aber in dem Jugendzentrum in seinem Wohnbezirk hatte er «mit Schimpfwörtern, Sprüchen und Unverständnis» zu kämpfen gehabt. Seine queere Identität und seine Nutzung des dortigen Jugendzentrums seien zwar von den Jugendarbeiter:innen aktiv unterstützt worden, «aber alles können die logischerweise auch nicht verhindern». So wird das neue Jugendzentrum für Nicholas nicht nur ein Safer Space, ein Ort, an dem er sich so, wie er ist, sicher bewegen kann – sondern auch ein Ort, an dem er seine Kompetenzen ausleben kann: «Ich wollte auch einmal eine neue Erfahrung machen und finde es spannend, bei der Einrichtung eines Jugendzentrums zu helfen.» Als Teil der Peergroup erarbeitet er, begleitet von Jugendarbeiter:innen und thematisch ausgewählten Expert:innen, wie das Jugendzentrum einmal aussehen und wie es inhaltlich gestaltet sein wird.
Queere Jugendarbeit lernen
Queere Jugendarbeit, sagt Mäx Lauscher, adressiert bei weitem nicht nur queere Jugendliche. «Wir begleiten junge Menschen ein Stück in ihrer Entwicklung und ihrem Heranwachsen. Langzeitstudien in der offenen Jugendarbeit zeigen, dass es langfristige Effekte im Abbau von Vorurteilen gibt. Und das ist ein zentraler Punkt: Wir arbeiten an der Sensibilisierung und der Reduktion von Vorurteilen auch bei jenen Jugendlichen, die sich bisher vielleicht wenig mit Queersein beschäftigt haben.»
Mäx Lauscher ist seit zwanzig Jahren in der Jugendarbeit tätig, sowohl in der Leitung als auch in der Basisarbeit und der Erwachsenenbildung. Für das WienXtra Institut für Freizeitpädagogik (IFP) hat Lauscher einen Lehrgang für queere Jugendarbeit konzipiert. Der wird dort seit Herbst 2023 erstmalig angeboten. Außerdem hat Lauscher sich während der Recherchen zu dieser Augustin-Coverstory für die Stelle der pädagogischen Leitung des neuen queeren Jugendzentrums beworben – und zwar erfolgreich. «Das neue Jugendzentrum ist wichtig, weil es ein sicherer Ort für queere Jugendliche sein kann. In der offenen Jugendarbeit sind Räume nicht immer sicher für queere Personen. Ich würde sogar sagen, sie sind häufiger nicht sicher als schon.» Darum ist eines der Ziele des Lehrgangs, queere Jugendarbeit zum Querschnittsthema für alle Einrichtungen zu machen. «Jugendarbeit passiert nicht außerhalb von Gesellschaft, und Gesellschaft ist nicht queerfreundlich», sagt Lauscher. «Es hängt oft auch von einzelnen Personen ab, wie intensiv das Thema in einer bestimmten Einrichtung verhandelt wird.»
«Ich glaube, es wäre illusorisch zu sagen, dass es keine Homophobie oder Transfeindlichkeit in der Jugendarbeit mehr gibt», meint auch Aldo Perez. Perez leitet gemeinsam mit Lauscher den Lehrgang am IFP. «Aber die Jugendarbeit ist sicher einer der offensten Bereiche, die ich kenne. Die akzeptierende Haltung liegt in der Natur des Berufs – die Jugendlichen so nehmen, wie sie sind. Das gibt sehr viel vor.» Im Lehrgang queere Jugendarbeit, den heuer 19 Leute besuchen können – wobei der Andrang weit höher war – geht es Perez vor allem um Wissensvermittlung. «Es gibt Berührungsängste. Die Leute denken, oh Gott, es gibt zigtausend Wörter und Pronomen, ich kenn mich nicht aus, ich weiß nicht, wen ich wie ansprechen soll! Und dann ist die Reaktion oft: Ich beschäftige mich lieber nicht damit, bevor ich einen Fehler mache.» Aber auch Praxis wird im Lehrgang geübt – wie setzt man queere Jugendarbeit im pädagogischen Alltag um? Welches inhaltliche und gestalterische Handwerkszeug braucht man dazu? Wie unterstützt man Jugendliche in der Phase des Coming-outs? «Wir üben auch, mit Fragen und Irritationen umzugehen.» Irritationen, findet Perez, sind erst einmal was Gutes: Sie bieten die Möglichkeit, etwas zu thematisieren, das schon da ist. «Im Großen und Ganzen», fasst Aldo Perez zusammen, «geht es darum, queeres Leben in dieser speziellen Lebensphase zu verstehen.» Johanna Tradinik, Leiterin des IFP, fügt hinzu: «Wir wollen auch das Bewusstsein dafür schärfen, dass queere Jugendliche überall sind, auch wenn man sie nicht sieht. Man sieht sie nämlich nur dann nicht, wenn es keine Angebote gibt, die sie direkt ansprechen.»
Der erste Durchlauf des Lehrgangs für queere Jugendarbeit ist ein Pilotprojekt. Bis April laufen die Module noch, dann wird evaluiert. Lauscher, Perez und Tradinik sind zuversichtlich: Warum sollte etwas, das gut läuft, auf viel Interesse stößt und eine sichtbare Wirkung auf die Jugendarbeit hat, nicht weiter gefördert werden? «Anfragen, wann der nächste Lehrgang startet, gibt es genug», meint Tradinik.
Eltern queerer Kinder
Sind die Jugendarbeiter:innen gut ausgebildet und haben die queeren Jugendlichen ihren selbstgestalteten Raum, kann eigentlich nichts mehr schief gehen. Oder doch? Da wären noch die Eltern. «Elternarbeit ist ein sehr wichtiges Thema», sagt Luca Flunger vom Verein Q:WIR. «Es ist aber vor allem wichtig, Bedacht auf das Spannungsfeld zwischen Safer Space und Eltern zu nehmen. Die zwei Dinge kann man nicht einfach zusammenwerfen.» Eltern haben, so sieht es das Konzept aller Jugendzentren vor, zu den Räumen der Jugendlichen keinen Zutritt. Darum wird das queere Jugendzentrum die beratende und begleitende Elternarbeit auch auslagern. Und zwar an das Regenbogenfamilienzentrum, kurz RbFz.
Das RbFz ist eine anerkannte Familienberatungsstelle mit Sitz im 5. Bezirk. Gegründet wurde es in Kooperation mit der Stadt Wien von lesbischen Müttern, die sich im Verein FAmOs Regenbogenfamilien zusammengetan hatten. Barbara Schlachter war eine der Gründerinnen und ist heute geschäftsführende Obfrau von FAmOs. Ihre Kollegin Pia Flunger ist Sozialarbeiterin und Projektleiterin des Regenbogenfamilienzentrums. Zentrale Aufgabe ist die Beratung von und die politische Lobbyarbeit für queere Familien und queere Elternschaft. Fragt man Barbara Schlachter, was seit der Gründung besser geworden ist, so sagt sie: «Alles. Als wir uns 2011 gegründet haben, gab es für queere Partner:innen nur die eingetragene Partnerschaft in ihrer ersten Version. Es gab noch nicht die Möglichkeit, sich als queere Familie abzusichern. Keine Stiefkindadoption. Keine Möglichkeit, in die Kinderwunschklinik zu gehen. Die Ehe nicht, die gemeinsame Adoption nicht. Das einzige, was es in Wien schon seit den 1990ern gab, waren gleichgeschlechtliche Pflegefamilien.» Heute ist das alles erreicht, und der nächste Meilenstein, an dessen Erarbeitung Pia Flunger maßgeblich beteiligt war, ist seit Jahresbeginn rechtliche Realität: «Für Paare, die nicht in der Klinik waren, sondern mittels Heiminsemination schwanger wurden, gab es bisher nur die Möglichkeit der Stiefkindadoption. Das heißt, der Elternteil, der das Kind nicht ausgetragen hat, musste das eigene Kind als Stiefkind adoptieren», erklärt Pia Flunger. «Mit Unterstützung von FAmOs haben wir geklagt, sind bis vor den Verfassungsgerichtshof gegangen, der uns Recht gegeben hat, dass diese Regelung diskriminierend ist. Deshalb ist seit 1. 1. 2024 die Stiefkindadoption nicht mehr notwendig, sondern man kann am Standesamt einfach die Elternschaft anerkennen lassen.»
Im Regenbogenfamilienzentrum war man bisher auf queere Eltern spezialisiert. In Zukunft kommen die Eltern queerer Jugendlicher aus dem neuen Jugendzentrum hinzu. «Durch das Naheverhältnis mit dem Trägerverein Q:WIR [der sich aus dem Verein Regenbogenzentrum entwickelt hat, Anm.] werden wir hier in Zukunft personell und räumlich die Möglichkeit schaffen, Elternberatung anzubieten. Das heißt konkret, wenn es Jugendliche aus dem Jugendzentrum gibt, die mit ihren Eltern bezüglich ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Genderidentität einen Beratungswunsch haben, können wir dem nachkommen.»
Einfach hier und queer sein
Bunte Flaggen hängen im Küchenbereich, sie stehen für verschiedene sexuelle und Gender-Identitäten. Sofas laden ein, sich zusammenzusetzen oder sich ein bisschen Rückzug zu gönnen. Die Beschriftung der Toilettentüren zwingt selbstredend niemanden, sich für «Frauen» oder «Herren» zu entscheiden. Die Klos sind rollstuhlbefahrbar. Bald wird der Raum eingerichtet – die Peergroup wird sich selbst an den Möbelbau machen.
Mit Ende Februar wird die Arbeit der Peergroup abgeschlossen sein. Bis zu vierzig Jugendliche, und darunter, sagt Luca Flunger beeindruckt, eine Reihe von neurodiversen Personen, haben ein halbes Jahr lang jeden zweiten Samstag daran gearbeitet, Wiens erstes queeres Jugendzentrum zu gestalten. Wann es eröffnet und wie es heißen wird, werden wir in den kommenden Monaten erfahren. Was es bieten wird, fasst Nicholas so zusammen: «Der Begriff Jugendzentrum sagt ja im Grunde schon aus, worum es geht: Platz zum Chillen und organisierte Aktivitäten. Mein persönliches Highlight wäre ein Billardtisch.» Und auch auf der Ebene von mentaler Gesundheit und gutem Lebensgefühl hat Nicholas klare Vorstellungen: «Ich erhoffe mir dort eine safere Umgebung. Außerdem ist es eine gute Gelegenheit, um neue queere Personen kennenzulernen. Hereinspazieren und einfach da sein können, das wünsche ich mir.»
Q:WIR:
www.q-wir.at
www.instagram.com/qwir_jugendzentrum
Regenbogenfamilienzentrum:
www.rbfz-wien.at
Lehrgang queere Jugendarbeit:
www.wienxtra.at/ifp/lehrgaenge/queere-jugendarbeit