Racheakte des Alltagstun & lassen

Zynismus und Verzweiflung: ein ganz normaler Vormittag im Landesgericht

«Lieber Augustin! Hier einige Gedanken zu meinem Besuch im Landesgericht Wien am Dienstag, dem 2. Dezember vergangenen Jahres. Vielleicht könnt ihr mit meinen subjektiven Betrachtungen etwas anfangen», schrieb uns Augustin-Leser Michael Weiß. Wir können. In dem Text wird nichts großartig «aufgedeckt», und dennoch handelt er von einem Skandal. Von dem Skandal, dass die «gleiche Augenhöhe» zwischen Richter_innen und Angeklagten nicht vorgesehen und das Recht auf Zynismus höchst ungleich verteilt ist. Lesen Sie einen Bericht über ein paar Stunden in der «Justiz».

Foto: Robert Newald

Ich erinnere mich. Zuerst wollten wir uns zu viert treffen, aber dann ging es sich bei den anderen aus irgendwelchen Gründen nicht aus. Und ich dachte mir, wenn ich schon mal da bin, dann schaue ich auch rein. Ich war heute drei Stunden vormittags am Landesgericht im 8. Bezirk und habe Verhandlungen beigewohnt. Einfach so, als Zuschauer. Und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll. Ich war in verschiedenen Verhandlungssälen, insgesamt in vier, im ersten und zweiten Stock. Ich habe miterlebt, wie über Menschen verfügt wird, wie einzelne Taten aus dem Kontext ihres Lebens gerissen werden, auf welche Weise vom hohen Stuhl herab vorgeworfen, angeklagt, verurteilt, abgeführt wird. Ich habe von rassistisch motivierten Pöbeleien gehört, von einem sturzbetrunkenen Jugendlichen, der auf offener Straße mit einem Messer eine Familie bedrohte, von Schulbuben, die anderen ihr Handy abluchsen wollen und einem dafür ins Gesicht schlagen, von einem Nachbarstreit über Nötigung und Drohung; ich habe gesehen, wie ein Jugendlicher einen Cannabisdealer schwer belastet, sodass dieser für etwa 2 Jahre hinter Gitter muss, und ich habe miterlebt, wie ein nur russisch sprechender Mann sich selbst mit jedem Wort schwer belastet, weil er völlig verzweifelt und am Ende seiner Kräfte ist.

Ich habe gesehen, wie Leute runtergeputzt werden von der Obrigkeit und wie Sprache dazu dienen kann, Grenzen zu errichten. Habe miterlebt, wie normal und rechtschaffen sich Menschen in Robe vorkommen, die auf das geschehene Übel mit dem Hinzufügen eines neuen Übels reagieren. Jeder Mensch sollte das mal erlebt haben, wirklich. Von welchen Übeln ich spreche? Ich rede – schreibe – von der in unserer Gesellschaft täglich angewandten Gewalt, die sich am Gericht in Form von in Gesetzestexten gegossenen Racheakten manifestiert. Die Übel heißen Bedrohen und Strafen, Kontrollieren und Einsperren, Erziehen und Verurteilen. Ich bin mir immer wieder vorgekommen, als wäre das alles nicht real, als wäre ich in einem Film, so surreal erschien mir das. Wie die Scheinprozesse und Inquisition im Mittelalter. Zwicken half nicht. Ich musste ein Foto machen, das mir später als Indiz dafür diente, dass ich das nicht geträumt hatte.

Die Pädagogik der Verhöhnung


Der Angeklagte hat generell den Mund zu halten, er hat nichts zu melden, hat mit seiner Tat schon alles gesagt und getan, hat damit seinen Teil beigetragen und sein Schicksal selbst besiegelt. Die Verhöhnung seiner Aussagen findet ihren Höhepunkt im Abschluss: «Herr Angeklagter, Sie haben das letzte Wort.» Und wenn er (ich sah an diesem Vormittag nur angeklagte Männer) nichts Neues zu sagen hatte, dann wurde ihm das Wort abgeschnitten, ähem, ent-zo-gen. Unzählige Male hörte ich an diesem Tag: Es tut mir leid, es tut mir so leid, geben Sie mir noch eine Chance, ich schwöre bei Gott … Und wer sich schuldig bekennt, vollkommen schuldig, darf mit mildernden Umständen rechnen. War es nicht bei Gullivers Reisen, wo das so durch den Kakao gezogen wurde? Wo jemand gestehen musste, was er nicht getan hatte, damit er freigesprochen wird? Oder bei Jeanne d’Arc? Immer wieder tauchen Szenen aus Filmen und Büchern auf, in denen das Geschehen vor Gericht parodiert wird. Weil die Ähnlichkeit zu dem, was hier abgeht, wirklich verblüffend ist!

Bestraft wird in jedem Fall. Und tatsächlich geht es nicht um Personen, sondern um Fälle, um Gefallene. Uneinsichtigkeit in die eigene Schuldigkeit wird gleich doppelt und dreifach bestraft. Wer allzu offen mit den Rechtssprecher_innen kooperiert, muss damit rechnen, dass alles, was er sagt, gegen ihn verwendet wird. Wie verschieden das männliche und weibliche Rechtssprecher_innen tun, ist ebenfalls eine Betrachtung wert. Beide Geschlechter witzeln, grenzen sich ab, machen ihre institutionelle (und keineswegs natürliche) Autorität geltend. Beide auf ihre Art. Hier, im Reich des Unpersönlichen, dürfen Mann wie Frau in kurzen Momenten ihre jeweilige zynisch-resignative Grundhaltung offenbaren. Wie sie die Verzweifelten dieser verrohten Gesellschaft fertig machen und zittern lassen, wie sie sie niedermachen und bibbern lassen vor Angst. Bis zur Urteilsvollstreckung, die manchmal wie der berüchtigte Hammer des mächtigen Thor mit gnadenloser Gewalt donnerte und zugleich auch wie eine Erlösung aus der Qual des Prozederes wirkte, eines Prozesses, der von Anfang bis Ende in grausam penibler Amtssprache vonstatten geht.

Die Sprache der Hierarchie


Einige wurden zu einer unbedingten Haft verdonnert, mit den Worten: «Mit ihrem Vorstrafenregister lassen sie mir als Richterin (oder Richter) gar keine andere Wahl.» Die Amtssprache als strukturell unfassliche Gewaltanwendung an arbeitslosen, migrantischen, drogenabhängigen Menschen, die keine Ahnung haben, was mit ihnen da geschieht und nur ab und zu § dies, § jenes zu hören kriegen, StGB hier, StGB da, und die selbst keine Wahl sahen, als sie taten, was ihnen nun vorgeworfen wird. Richter_innen, die sich selbst schützen durch diese Art der formalen und hierarchisch strukturierten Sprache und die in den Pausen plauschen und sich amüsieren über die Aussagen von Menschen in übelster Not, von Menschen, die dringend Hilfe bräuchten statt ein weiteres Urteil, eine weitere Strafe. Und zugleich scheinen sie zu wissen, dass dieses System nicht funktioniert!

 

Denn sie lassen ihren Unmut spüren, und sprechen hinter vorgehaltener Hand von den unmenschlichen Regelungen der Regierung, für die sie arbeiten. Und machen sofort weiter mit dem Prozess, um selbst nicht eines Amtsmissbrauchs beschuldigt zu werden oder für inkompetent oder zu nachgiebig oder zu weich oder zu was weiß ich bezichtigt zu werden. Gut dastehen vor den Kollegen und wichtiger erscheinen als Justizwache, Stenografin (durchgehend weiblich), Staatsanwalt (durchgehend männlich) in einem. Die Verteidigung, sie erschien mir da zu sein als Vertreter des Rechts, sie wechselte öfter Blicke mit der Richterin als mit dem eigenen Mandanten.

Einsprüche von Angeklagten werden mit einer herrischen Stimme hinweggewischt. Zum Schluss noch eine Anekdote, in dem die aufgrund der institutionell fest verankerten hierarchischen Ordnung zum Ersticken dicke Luft spürbar wird. Als bezeichnende Szene der Ungerechtigkeit im Landesgericht an diesem Vormittag bleibt mir dies in Erinnerung: Die Richterin sagt etwas, der Angeklagte setzt an, sich zu rechtfertigen, die Richterin zum Angeklagten: «Ich rede jetzt nicht mit Ihnen.» Zwei Minuten später fragt der Staatsanwalt den Angeklagten etwas, der Angeklagte antwortet, die Richterin unterbricht ihn mitten im Satz, er sagt: «Ich wollte die Frage des Staatsanwalts gerade beantworten.» Die Richterin zischt wie eine Schlange laut auf: «Belehren Sie mich nicht darüber, mit wem sie hier reden.» Eine unvergessliche Erfahrung …

Konfliktlösung ohne Richter_innen und Staatsanwält_innen

Muss Strafe sein?

Wer immer nur auf Europa – und in unser Landesgericht in der Josefstadt – blickt, dem entgeht das Wichtigste, was es im Augenblick zur Zukunft des Gefängnisses und der Justiz zu sehen gibt: die Bewegung zur «restorative justice». Diese Bewegung, die sich zunächst fast unbemerkt an den Rändern der alten angelsächsischen Kriminologie – in Australien, Neuseeland und Kanada – entwickelte, nimmt Abschied von den langweiligen Ritualen des Streits zwischen linker, liberaler und rechter Kriminalpolitik.

Restorative Justice eine Form der Rechtsprechung, an der möglichst alle von einer Handlung betroffenen Personen teilnehmen und sowohl die Handlung selbst als auch deren Folgen für alle Betroffenen möglichst zwanglos besprechen. Es geht dabei um die Art und Weise der Wiedergutmachung des angerichteten Schadens sowohl in psychischer als auch in materieller Hinsicht. Es geht um den Gefühls- und den Materialschaden auf der Seite des Opfers wie auch um die Wiederherstellung des Status des Täters in der Gemeinschaft – und last but not least geht es um die Wiederherstellung der sozialen Kohäsion, die durch die Handlung geschwächt wurde.

Zentral ist dabei die moralische Beschämung des Täters: Erst wenn der Täter sich für seine Tat schämt, wenn er das Unrecht und die Notwendigkeit der Wiedergutmachung einsieht und bereit ist, sich dafür auch selbst zu engagieren, wird es möglich, ihm eine Brücke zur Reintegration zu bauen (reintegrative Beschämung). Eine zweite wichtige Voraussetzung ist die Zwanglosigkeit der Kommunikation – das heißt aber auch: die größtmögliche Distanz zu staatlichen Zwangspersonen wie Staatsanwälten oder Richtern. Schon das unterscheidet die Restorative Justice gravierend vom herkömmlichen Strafprozess. Tatsächlich ist aber praktisch alles anders – sogar das Ziel der Verhandlung. Ziel ist nicht eine abstrakte Bestrafung und die Wiederherstellung eines abstrakten Rechtsfriedens, sondern die positive Beendigung des Konflikts für die unmittelbar Beteiligten, die «caring community». Das Ziel ist nicht die Strafe und die Stärkung der staatlichen Autorität, sondern die Heilung von Verletzungen.

In einer breit angelegten Sekundäranalyse kommt John Braithwaite (2001) zu dem Schluss, dass es Alternativen zur traditionellen Strafjustiz und zum Gefängnis gibt, die diesen in jeder Hinsicht überlegen sind. In jeder Hinsicht heißt: im Hinblick auf die Bedürfnisse der Opfer von Straftaten, aber auch im Hinblick auf die Einwirkung auf die Täter und im Hinblick auf die Erwartungen des sozialen Umfeldes im Stadtviertel oder in der Gemeinde. Interessanterweise zeitigt Restorative Justice in der Praxis sogar im Hinblick auf die Ziele der Abschreckung, der Sicherung (Unschädlichmachung) und Resozialisierung bzw. Rehabilitation bessere Ergebnisse als das herkömmliche Strafsystem.

Quelle: Krimpedia, «Welt ohne Gefängnisse»