Radikale Gastfreundschafttun & lassen

Zu Besuch bei der christlich-anarchistischen Catholic-Worker-Bewegung

Revolutionär und religiös? Geht das überhaupt? Dorothy Day meinte: Ja, das geht, und hat die Catholic-Worker-Bewegung gegründet. Auch die junge Londoner Aktivistin Nora Ziegler sieht darin keinen Widerspruch. Jakob Frühmann hat sich das anarcho-christliche Zusammenleben live angeschaut.

Foto: Ina Yurena

Für gewöhnlich bedient sich der politische Diskurs gern der beschönigenden Kraft der Sprache. Entgegen dieser Strategie brachte im Jahr 2012 Theresa May, damals Innen- und heute Premierministerin von Großbritannien, ihr Programm unumwunden auf den Punkt: «Das Ziel ist, hier in Großbritannien ein wirklich feindseliges Umfeld für illegale Migration zu schaffen.» Dieses «wirklich feindselige Umfeld» drückt sich in der umfassenden Beschränkung von Rechten und gesellschaftlicher Mobilität aus.

Menschen, die durch diese Einschränkungen illegalisiert und kriminalisiert werden, finden in der Catholic-Worker-Bewegung in London eine Gemeinschaft, an der sie teilhaben und von der sie Teil sind – etwas, das ihnen sonst abgesprochen wird. «Das verstehe ich als Widerstand gegen die leise und grausame Politik gegen Menschen ohne Papiere», sagt Nora Ziegler. Nora lebt seit drei Jahren im Giuseppe Conlon House im Londoner Stadtteil Haringey als eine von drei permanenten Bewohner_innen, gemeinsam mit einigen Kurzzeitvolontär_innen und zwanzig Gästen. Das Haus trägt den Namen eines Belfaster Justizopfers: Giuseppe Conlon wurde mit gefälschten Beweisen beschuldigt, einen Bombenanschlag in London unterstützt zu haben; er starb 1980 im Gefängnis.

Die Gäste im Giuseppe Conlon House sind unterschiedlichen Alters und unterschiedlicher Herkunft – gemein ist ihnen die Bedrohung durch Obdachlosigkeit und sehr prekäre Lebensumstände. So etwa einige Personen höheren Alters, die mit der Unabhängigkeit Jamaicas ihre britische Staatsbürgerschaft verloren haben, aber jahrzehntelang Teil der britischen Gesellschaft waren. Seit der Verschärfung durch Mays Politik des «feindseligen Umfelds» droht ihnen permanent die Abschiebung in ein Land, das ihnen längst fremd gewordenen ist.

Der Ast, der uns hält.

Während staatliche Einrichtungen «Fälle» erledigen, beruhen Noras Arbeit und Leben auf Begegnung und Beziehung: «Der Staat erkennt die Leute nur als Statistik an, nicht als Menschen.» Bei den Catholic Workers werden nicht Kund_innen, Klient_innen oder Patient_innen behandelt, sondern Gäste willkommen geheißen.

Seit einem guten Jahr lebt der aus Mossul stammende Azad hier. Das offene Zusammenleben und Teilen von alltäglichen Momenten ist für ihn Teil jenes Astes, «der uns hält, während wir vom Baum geschmissen werden». Besonders den familiären Kontakt mit den Bewohner_innen schätzt er. In der adaptierten Kirche der Gemeinschaft stapeln sich Essens- und Kleidungsspenden neben Protestschildern von vergangenen und kommenden Demonstrationen. Im ehemaligen Pfarrhaus wird in Mehrbettzimmern geschlafen, ein Wohn- und Esszimmer bildet den Mittelpunkt. Im gemeinschaftlichen Leben werde aber auch ersichtlich, wie schnell Macht ausgeübt und geherrscht werde, meint Nora. «Sich mit den Wurzeln von Gewalt zu beschäftigen, ist immer auch radikale Kritik an Staat und Kapitalismus.» Dass das Zusammenleben oft herausfordernd ist, verhehlt sie dabei nicht – etwa wenn es um das tatsächliche Teilen von Privilegien und um die unterschiedlichen Bedürfnisse geht.

Häuser der Gastfreundschaft sind Kern einer Bewegung, die mit dem Verteilen der Zeitung «The Catholic Worker» bei der 1.-Mai-Demonstration 1933 in New York begonnen hat. Die Gründungsfiguren Dorothy Day und Peter Maurin drängten darauf, radikale christliche Überzeugungen auch praktisch zu leben. Mittlerweile gibt es weltweit über 200 dezentral organisierte und autonome Häuser, in denen das Leben mit marginalisierten Menschen nicht als Sozialarbeit, sondern als Gemeinschaft verstanden wird, die Privilegien teilt. Dazu gehört ein dezidiert politisches Bewusstsein, wie es Dorothy Day formulierte: «Unser ganzes Problem besteht darin, dass wir dieses dreckige, verrottete System akzeptieren.»

Die Grundlage für einen solch radikalen Lebensentwurf bildet die schier unerhörte Verbindung von Christentum und Anarchismus. Dorothy Day war nicht nur bekennende Katholikin, sondern auch von anarchistischer Herrschaftskritik überzeugt; vor allem fand sie die bei Tolstoi und Kropotkin. In der Erstausgabe des «Catholic Worker» – der in New York bis heute einen Cent kostet und mittlerweile in vielen Lokalausgaben erscheint – schreibt sie an die Leser_innen: «Ist es nicht möglich, radikal und nicht atheistisch zu sein? Ist es nicht möglich zu protestieren, bloßzustellen, anzuklagen, Missbrauch aufzudecken und Reformen zu fordern, ohne den Umsturz der Religion zu wünschen?»

Die Bereitschaft, unbequem zu sein.

Das gewaltfreie Streben nach Gerechtigkeit mündet oft in Protesten und zivilem Ungehorsam. So ist etwa Susan van der Hijden, Mitglied der seit knapp dreißig Jahren bestehenden Catholic-Worker-Gemeinschaft in Amsterdam, bei sogenannten «Pflugscharaktionen» aktiv gewesen. Der prophetische Gedanke, Schwerter in Pflugscharen und Speere in Sicheln zu wandeln, ist Fundament für ihren Pazifismus, den sie unter anderem in der direkten politischen Aktion zu leben versucht. So sabotierte sie mit Hammerschlägen ein Fahrzeug für den Transport nuklearer Waffen aus Südengland zu einer U-Boot-Basis nach Schottland; im Anschluss stellte sie sich den Behörden und ging für sechs Monate ins Gefängnis. Das Öffentlichmachen solcher Aktionen ist ein bewusster Akt, ebenso wie das Leben im Häfen, das sie als klösterliche Erfahrung zu deuten versucht. «Es ist eine Gemeinschaft armer Menschen, der Ausgesonderten.»

Ein anderer Aktivist, der für diese Aktion eingesperrt wurde, war Martin Newell. Newell ist Priester der katholischen Ordensgemeinschaft der Passionisten und Mitgründer der Catholic-Worker-Gemeinschaft in London. Für seine Proteste für Abrüstung, vor Abschiebezentren oder bei Klimagipfeln wurde er mehrfach verurteilt. Bei der diesjährigen European Anarchist Conference auf der Catholic Worker Farm am westlichen Stadtrand Londons legt er seine Überzeugung dar: «In der heutigen Gesellschaft werden Kriege ohne Rekrutierungen geführt, auf Grundlage von Steuern und im Namen von uns Privilegierten. Bin ich dagegen, erfordert das die direkte gewaltfreie Aktion.» Die ist Teil seines Christseins: «Ich versuche, gemäß der Radikalität des Evangeliums zu leben. Das bedeutet: Gewaltfreiheit, Gastfreundschaft, Gemeinschaft, Armut und die Bereitschaft, unbequem zu sein.» Dass die Mainstreamkirche Teil des Establishments ist, weiß er. Und ebenso kennt er die Vorbehalte linker und autonomer Gruppierungen, die beim Auflegen des «Catholic Worker» in Buchläden oder bei der Anarchist Book Fair in London lauthals «und nicht gewaltfrei» artikuliert würden. Dass Widersprüche ausgehalten werden müssen, ist christlichen Anarchist_innen bewusst – und vermutlich ihre Stärke.

Liebe deine Nächsten und deine Feind_innen!

Um das Ethos der Catholic-Worker-Bewegung zu beschreiben, zitiert Sebastian Kalicha, Autor des Buches «Christlicher Anarchismus. Facetten einer libertären Strömung», Gustav Landauer: Der Staat sei «ein Verhältnis», eine «Beziehung zwischen den Menschen», «eine Art, wie die Menschen sich zueinander verhalten». Insofern können man ihn zerstören, «indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält». Wörter wie Nächsten- oder gar Feindesliebe stoßen in vielen Kreisen auf Unverständnis – christlichen Anarchist_innen bieten sie das Fundament.

Die Öffnung des eigenen Zuhauses, alltäglich gelebte Solidarität und politischer Protest folgen dem Streben, hierarchie- und gewaltfrei zu leben, und erfordern die Bereitschaft für ein radikales Leben, «weswegen viele Christ_innen das auch nicht tun», so Nora. In der Catholic-Worker-Bewegung habe sie allerdings Menschen gefunden, die eine solche Überzeugung leben. Sie seien «nicht Teil der institutionellen Kirche, aber Teil der Gemeinschaft. Und wir erinnern die Kirche an ihre radikalen Wurzeln.» Konkret ist das aus christlich-anarchistischer Perspektive ihre Entstehung im Kontext staatlicher Unterdrückung durch das römische Imperium. Die Nicht-Anerkennung der Macht und das Durchbrechen etablierter Ordnungen und Institutionen werden in Texten wie der Bergpredigt thematisiert. Auch Nora glaubt nicht, dass der Staat je für Azad und die anderen Gäste der Gemeinschaft da sein werde. Ihr gelebtes Widerstehen ist auch ein Kampf gegen die Resignation, den ihr Glaube stützt: «Ich schöpfe nicht aus bloßem Optimismus Hoffnung.»