Radlfahren mit Kollektivvertragtun & lassen

Als erstes Land der Welt hat Österreich seit 2020 einen Kollektivvertrag für Fahrradzusteller_innen. Das Problem: Es profitiert kaum jemand davon. Ein paar Wiener Lieferando-Kuriere versuchen es deshalb auf anderem Weg. Text: Hannes Greß, Illustration: Barbara Ott

Ein Treffen in einem Café sei nur möglich, wenn er eingeladen werde. Für diesen Monat sei nicht einmal mehr eine Melange drin, zu knapp das Budget. Dass man es als Essenszusteller selten zu unverschämtem Reichtum bringt, ist bekannt. Fritz ist da keine Ausnahme. Der 22-Jährige heißt eigentlich anders, möchte aber anonym bleiben. In der Chefetage seines Arbeitgebers Lieferando ist er auch so schon unbeliebt genug. Am Montag, dem 16. März, um 9 Uhr sollten er, seine Mitstreiter und sein Arbeitgeber sich in der Althanstraße 39-45 in Wien-Alsergrund wiedersehen: am Wiener Arbeits- und Sozialgericht. Ihr Prozess wurde wegen der Corona-Epidemie kurzfristig vertagt; doch die Gründe für ihre Auseinandersetzung liegen ohnehin viel tiefer.

Flexibel, frei, verfügbar.

Eigentlich sollte für die Zusteller_innenbranche in Österreich mit 1. Jänner 2020 vieles besser werden. Mit Jahresbeginn trat der neue Kollektivvertrag in Kraft. Vollzeitbeschäftigte haben seither Anspruch auf Mindestlohn, Urlaubs- und Weihnachtsgeld und erhalten eine Kostenpauschale, sollten sie ihr privates Rad oder Handy benutzen. Für Fritz jedoch hat sich kaum etwas verändert. Wie die meisten seiner rund 300 Kolleg_innen bei Lieferando ist er geringfügig beschäftigt. Doch die Kämpfe um mehr Lohn und bessere Arbeitsbedingungen finden seiner Meinung nach sowieso auf anderem Terrain statt.
Nicht dass Fritz unzufrieden wäre mit seinem Job. Zwar seien die Wintermonate hart, besonders hier in Wien, aber die Bezahlung durchaus fair. Und schließlich gibt’s Schlimmeres, als fürs Fahrradfahren bezahlt zu werden, findet er. Fritz ist so etwas wie der Prototyp eines Fahrradkuriers: Student, leidenschaftlicher Radfahrer und einer, der beim Schlagwort «flexible Arbeitszeiten» eher an Freiheit denkt als an ständige Verfügbarkeit und Prekarität. Seit eineinhalb Jahren kutschiert er zehn Stunden die Woche Pizza und Burger quer durch Wien, für elf Euro brutto die Stunde, plus Trinkgeld. Das war auch letztes Jahr bereits so, vor dem Kollektivvertrag, und sei «mehr als fair».

Grün, pink, orange.

Wer den Kampf der Zusteller_innenbranche in Wien verstehen will, muss einen Blick in die Vergangenheit werfen. Fuhren vor ein paar Jahren noch Fahrradzusteller_innen in sämtlichen Farben durch Wien, tragen die Radler_innen heute entweder Orange oder Grün. Bereits Anfang 2019 zog sich Uber Eats aus dem heiß umkämpften Wiener Markt zurück. Wenige Monate später, im April vergangenen Jahres, verschwanden dann auch die pinken Foodora-Radler_innen von den Straßen – und wechselten auf Grün. Foodora und Mjam verschmolzen in weiterer Folge zu Mjam Plus. Letztere konkurrieren seither einzig mit Lieferando um die Vorherrschaft im Kampf der Wiener Zustelldienste. Doch von einem echten Kampf ums Monopol kann kaum die Rede sein: Der Berliner Mutterkonzern von Mjam Plus, Delivery Hero, sowie der Mutterkonzern von Lieferando, Takeaway.com mit Sitz in den Niederlanden, sind eng miteinander verflochten. Beide unterhalten Unternehmens- und Aktienanteile vom jeweils anderen.
Für die Kuriere macht die Entscheidung Orange oder Grüne im Arbeitsalltag einen großen Unterschied. Laut Fritz ist Orange die deutlich bessere Wahl. Denn die Konkurrenz von Mjam Plus beschäftigt rund 90 Prozent ihrer 1.200 Beschäftigten als freie Dienstnehmer_innen, nur jede_r Zehnte hat überhaupt so etwas wie einen Arbeitsvertrag. Das heißt, ein Großteil der Belegschaft wird pro Auslieferung bezahlt. Die Zeit, in der sie auf neue Aufträge warten, wird nicht entlohnt. Den Luxus, während einer Auftragsflaute «ab und zu mal zwei Stunden in der Sonne auf’m Bankerl zu sitzen und zu rauchen», wie ihn Fritz genüsslich schildert, genießen die Mjam-Fahrer_innen nicht. Viel gravierender wiegt, dass Freie keinen Anspruch auf Sozialleistungen und kaum Kündigungsschutz haben. Und auch der Kollektivvertrag greift für die offiziell als selbstständig betitelten Fahrer_innen eben nicht.

Eine Lagerhalle als Chef.

Hier offenbart sich eine Tendenz, die auch den Vertreter_innen der Arbeiter_innenschaft zahlreicher anderer Branchen zu schaffen macht. Für viele prekär Beschäftigte, besonders in der Zusteller_innenbranche, wirken die herkömmlichen Mittel der Konsenspolitik zwischen Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen nur noch eingeschränkt. Der neue Kollektivvertrag mag für Vollzeitbeschäftigte in der Tat erhebliche Verbesserungen mit sich bringen, nur stellen diese eine Minderheit in der Zusteller_innenbranche dar. Für geringfügig Beschäftigte wie Fritz bringt er zumindest leichte Verbesserungen, freie Dienstnehmer_innen profitieren so gut wie gar nicht von der Vereinbarung.
Eigeninitiative zu ergreifen erwies sich für Fritz und seine Kolleg_innen von Lieferando als deutlich effektiver. Fritz und fünf Mitstreiter schlossen sich im Herbst vergangenen Jahres zusammen, um einen Betriebsrat zu gründen. Nicht einfach in einer Branche, in der man seine Kolleg_innen nur selten zu Gesicht bekommt. Geklappt hat es trotzdem, sehr zum Unmut des Lieferando-Mutterkonzerns Takeaway.com. Das Unternehmen mit Sitz in Amsterdam klagte die Wiener Unruhestifter mit einer etwas abstrusen Begründung: Die Mitarbeiter_innen ihrer Tochtergesellschaft Lieferando hätten kein Recht auf einen Betriebsrat, weil es sich bei der Niederlassung in Wien um eine unselbstständige Zweigniederlassung handle, aber um keinen eigenständigen Betrieb.
Gegenüber Fritz und seinen Mitstreitern habe Takeway.com erklärt, man betreibe in Österreich lediglich Lagerhallen zur Unterbringung der Räder, habe jedoch keinen ordentlichen Firmensitz. Der 22-Jährige kann darüber nur den Kopf schütteln. Er habe hier in Wien bei seinem Arbeitgeber Lieferando einen Arbeitsvertrag unterschrieben, wohl kaum beim Betreiber einer Lagerhalle.
Am Erfolg ihres Betriebsrates haben die rechtlichen Streitereien wenig geändert. Seit Herbst vernetzen sich die Fahrradzusteller_innen in einer eigenen WhatsApp-Gruppe, verabreden sich zu regelmäßigen Sitzungen und diskutieren das gemeinsame Vorgehen. Seither erkämpften sie bereits eine Haftpflichtversicherung für alle rund 300 Lieferando-Beschäftigten. Für ihre Räder erstritten sie bessere Reifen und neue Bremsen sowie höherwertige Rucksäcke für die Fahrer_innen.

Ein Stück vom Kuchen?

Dass sie ihrem Konzern ein Dorn im Auge sind, macht dieser auch abseits der Gerichte regelmäßig deutlich. Einen der Initiatoren des Ganzen, erzählt Fritz, sei bereits vor die Tür gesetzt worden. Er war einmal unentschuldigt nicht zum Dienst erschienen – für Lieferando offenbar Grund genug, um dem unliebsam gewordenen Aufwiegler zu kündigen. Fritz erzählt auch von Mitarbeiter_innen, denen das Unternehmen regelmäßig «Zuckerl» anbietet, Erleichterungen im Arbeitsalltag etwa, um sie vom Betriebsrat abzuwerben.
Der Kampf der Wiener Fahrradkurier_innen gegen ihre Chefetage exemplifiziert eine Grundkonstante ökonomischer Verteilungskämpfe. Beim Interessenskonflikt zwischen Arbeitgeber_innen und Arbeitnehmer_innen lautet die entscheidende Frage nach wie vor: Wer bekommt wie viel vom Kuchen? Doch die Auseinandersetzung der Fahrradzusteller_innen gegen ihre Arbeitgeber_innen zeigt auch, dass die Instrumente der Arbeitskämpfe von einst heute nicht mehr ihre volle Wirkung entfalten können. Denn die Rahmenbedingungen sind andere. Der eigentliche Arbeitgeber sitzt fernab des Arbeitsplatzes und genießt europaweit eine De-facto-Monopolstellung; Beschäftigte werden daran gehindert, sich für ihre Interessen zu organisieren, und mittels abstruser rechtlicher Konstrukte wird versucht, die Rechte der Arbeitnehmer_innen noch zu untergraben. Aus Sicht der Lohnabhängigen, so Fritz, bleibt eigentlich nur eines – Kampfbereitschaft: «Du musst ihnen einfach richtig zach kommen».
Am Montag, dem 16. März, dem vorgesehenen Prozesstag, hängt ein Schild mit roten Buchstaben an der Eingangstür des Wiener Arbeits- und Sozialgerichts: Aufgrund der Corona-Epidemie werden sämtliche Prozesse bis auf Weiteres vertagt. Ein neuer Termin steht noch nicht fest, eine Entscheidung in der Auseinandersetzung zwischen Betriebsrat und Lieferando bleibt damit vorerst aus.