Ein Pirschgang durch das vernachlässigte Sopron
Ein großer Theoretiker und Praktiker der Flanerie ist Friedrich Achleitner. Er regt zu «Pirschgängen» an, die die Augen öffnen «für das Unbeschreibbare, das Leere, das Liegengelassene, das Ausrangierte, das sich einem Nutzen Verweigernde, das Kaputte, das Schräge». Robert Sommer (Text und Fotos) testete, ob Sopron ein guter Pirsch-Ort wäre …Die Antwort ist eindeutig positiv. Mit vielen historischen Städtchen und Städten Mitteleuropas hat Sopron das Phänomen gemein, dass die schmucken historischen Stadtzentren, die die Altstadterhaltungsgelder absorbieren, eine Achtsamkeit der Stadtgesellschaft gegenüber dem kulturellen Erbe ihrer Stadt versprechen. Mit dieser Achtsamkeit ist es jedoch schon vorbei, wenn man sich die ersten Straßen anschaut, die unmittelbar aus dem Zentrum hinausführen. In Sopron liegt das Ausrangierte, Kaputte, Gfäude ganz nah der Altstadtidylle, die fast zur Gänze aus denkmalgeschützten Gebäuden besteht. Man braucht beispielsweise nur die Haustore zu öffnen, um in einer ganz anderen Art der Idylle zu landen: in der Idylle der Unordnung, die bleibt, wie sie ist, weil kein Forint sie vom Unort-Status befreien wird, weder ein Hauseigentümer-Forint noch ein Stadtbudget-Forint.
Zum Öffnen der Haustore – braucht man da nicht Schlüssel? Der gelernte Wiener, die informierte Wienerin weiß, dass die Innenhöfe der vormodernen Stadt geschlossen sind und dass die Pirschgänger_innen im Sinne Achleitners, wenn sie einen Blick in diese Weichteile der Stadt riskieren wollen, einen Zufall benötigen, zum Beispiel Bauarbeiter, die etwas zu schaffen haben im Hof und deswegen das Tor temporär offen lassen müssen. Die gefühlte Unsicherheit, die in Wien dank der Flut an Mord- und Totschlags-Daten grassiert, hält die Tore geschlossen, anders als in Sopron, wo man in vielen Gebäuden keinen Schlüssel braucht, um den Innenhof zu inspizieren. Muss man in Sopron weniger Angst haben vor unbefugten Eindringlingen auf der Suche nach Verwertbarem? Wir glauben da unbedingt dem österreichischen Außenministerium, das Wien und Sopron in dieselbe Sicherheitsstufe 1 (von insgesamt 6 Stufen) kategorisiert. Note 1 steht für einen «guten, mit Österreich vergleichbaren Sicherheitsstandard». Übrigens sollte sich das Außenministerium mit dem Innenministerium absprechen, denn letzteres erweckt den Eindruck, als habe die «Flüchtlingswelle» den Sicherheitsstatus zum Negativen verändert. Aber das ist ein anderes Thema …
Die Soproner_innen, die mit und in diesen Innenhöfen leben, brauchen sich auch nicht davor zu fürchten, dass in Zukunft Horden von Achleitner-Schüler_innen sich vor den versteckten, aber unversperrten Unorten der zentrumsnahen Altstadt die Haustorklinken in die Hand drücken. Der durchschnittliche Wiener, die normale Wienerin hat hier andere Bedürfnisse. Der Name Sopron (ausgesprochen: Schopron) leitet sich zwar nicht von Shopping ab, aber die ungarische 60.000-Einwohner-Stadt, rund 70 Kilometer südlich von Wien, wird von den meisten Wiener_innen als Einkaufstadt wahrgenommen. Attraktiv ist sie auch als Stadt der falschen Zähne. Zwei Millionen potenzielle Zahnwehpatient_innen rund 70 Kilometer nördlich von Sopron haben zu einer Zahnarzt-Dichte in der Grenzstadt geführt, die weltweit möglicherweise einzigartig ist.
Schmuddelige Innenhöfe
Wäre Sopron im Burgenland geblieben, würde die Mehrheit seiner Bevölkerung – wie auch schon vor dem Ersten Weltkrieg – deutsch sprechen und die Ärztedichte entspräche dem aktuellen burgenländischen Standard, wäre also skandalös niedrig. Die Tore wären in einem österreichisch gebliebenen Ödenburg (so heißt Sopron auf Deutsch) wohl öfter geschlossen. Doch bekanntlich haben die Ödenburger_innen, trotz der Dominanz der Deutschsprachigen, sich in einer Volksabstimmung 1921 für einen Verbleib in Ungarn ausgesprochen. Aus der Perspektive der ungarischen Geschichtsschreibung haben viele Deutsche für Ungarn gestimmt, weil sie sich bessere Lebensverhältnisse versprachen; aus amtlicher österreichischer Sicht ist die Wahl unter Bedingungen der Einschüchterungen der deutschsprachigen Bevölkerung abgelaufen, die später nach dem Zweiten Weltkrieg, wie die Sudetendeutschen, aus ihrer Heimat vertrieben wurden.
Dass leidenschaftliche Pirschgänger_innen in Achleitners Sinn die Parallelität der auseinanderklaffenden Idyllen – hier die Postkarten-Idylle des gepflegten historischen Zentrums, dort das Flair der schmuddeligen Innenhöfe – erleben können, ist geopolitischen Umständen zu verdanken. Sopron blieb vom Kapital, das die Altstadt modernisieren hätte können, verschont. Wäre es anders gekommen, wäre der Flaneur im Dienste des Augustin auf etlichen Überwachungskamerafilmen zu sehen, ohne je einen der räudigen Ödenburger Innenhöfe kennengelernt zu haben.