Rainer Nesset und seine Bildserie „Unsichtbare Stadt“Artistin

Dem Bettlerkönig Lehrgeld bezahlt

Paparazzi sind ungebeten. Ihnen gegenüber kapselt sich „das Milieu“ ab. Besser von niemanden, als von knipsenden Voyeuren wahrgenommen (und verdinglicht) zu werden. Bei Rainer Nesset liegt der Fall anders. Wenn er im Auftrag des AUGUSTIN fotografiert, muss er nicht erst in „das Milieu“ als Fremder eindringen. Seit der professionelle Fotograf Sandler-Aktionen und AUGUSTIN-Feste begleitet, wirkt er quasi wie vom Milieu inhaliert. Seiner Nähe zu den Porträtierten ist ein Fundus von Fotos zu verdanken, die an Authentizität nichts zu wünschen lassen. Einen Teil dieses Gesamtwerkes stellt Rainer Nesset nun aus. „Unsichtbare Stadt“ heißt seine Fotoschau. Sie zeigt liebevolle Portraits von sozial ausgegrenzten Menschen, die auch stadträumlich ausgegrenzt (also tendenziell unsichtbar gemacht) werden. Rainer Nesset macht sie sichtbar – und verhält sich insofern ebenso provokativ wie der AUGUSTIN.Wie sich im Verlauf späterer Jahre herausstellen sollte, war Rainers Leben durch die erste eigene Kamera – er bekam sie als Zwölfjähriger geschenkt – nachhaltig beeinflusst worden.

Die Möglichkeit, eigene Bilder zu produzieren, Motive mittels seiner persönlichen Sicht zu beeinflussen, ließ ihn nicht mehr los. Diese Faszination führte zum Erlernen des Fotografen-Handwerks.

„Als in Wien die großen Vietnam-Demos abgehalten wurden, war ich mit meiner Spiegelreflexkamera dabei und sammelte erste Erfahrungen als Street-Fotograf. Wenn die Demos einmal ausblieben, bewegte ich mich vorrangig, immer die Kamera vor den Augen, in verschiedenen Probelokalen der damals unzähligen Rockbands, um den Lifestyle dieser Zeit festzuhalten“, denkt Rainer an die 70er zurück.

Sein erstes Foto, das er der Bilderserie „Unsichtbare Stadt“ zuordnete, entstand vor 28 Jahren. Als er wieder einmal in der Innenstadt auf Motivsuche war, entdeckte er in der Menschenmasse ein Gesicht, das sich von den anderen völlig abhob. „Genau dieses Gesicht wollte ich auf Film bannen. Ich zielte in Paparazzomanier mit einem Teleobjektiv auf die ausgewählte Person. Bevor ich auslösen konnte, eilte der Mann trotz seiner Krücken in Windeseile auf mich zu, umstellte mich mit drei scheinbar aus dem Nichts aufgetauchten Freunden und stellte mich zur Rede. Nach kurzem heftigen Wortwechsel erzählte er mir, er sei der Bettlerkönig und ich könne nur dann ein Bild von ihm machen, wenn er es will. Nachdem ich mir erklären ließ, wie man Bettlerkönig wird und wie so einer denn eigentlich lebt, stimmte er einer Aufnahmeserie zu.“

Eine Erfahrung, die Rainer Nesset von nun an mit anderen Augen durch die Stadt gehen ließ: „Ich wechselte das Tele gegen kurze Brennweiten, das heißt, ich muss nahe an mein Motiv heran gehen, muss mich also mit den Menschen auseinandersetzen, mit ihnen reden und ihre Entscheidungen akzeptieren.“

Als Rainer vor etwa eineinhalb Jahren mit dem AUGUSTIN in Berührung kam, lernte er einige von Obdachlosigkeit Betroffene näher kennen – und erinnerte sich an das altes Vorhaben, eine umfassende Fotodokumentation über wohnungs- und obdachlose Mitmenschen zu erstellen.

Rainer nahm erste Kontakte zu diversen Sozialstellen auf. Er recherchierte zur Thematik Obdachlosigkeit, bis im Jänner des Vorjahres die ersten Fotos zur „Unsichtbaren Stadt“ rund um den Franz-Josefs-Bahnhof entstanden. „Vor Ort werde ich innerhalb kurzer Zeit belehrt, dass mein vorhandenes Wissen über obdachlose Menschen nichts mit dem zu tun hat, was ich nun hautnah sehen und erleben konnte.“

Anschließend verbrachte Rainer Nesset einige Tage in Wiens bekanntester Obdachloseneinrichtung, der Gruft. Einige AUGUSTIN-Verkäufer, die hier ihr Zuhause haben, erleichterten ihm den Zugang zu vielen anderen „Grufties“.

Vor jeder Aufnahme kam es zu Gesprächen mit den Beteiligten. Einerseits, um deren Zustimmung zu den Aufnahmen einzuholen, andrerseits, um einander kennen zu lernen und die Anliegen von Betroffenen transportieren zu können.

Während der nächsten zwei Monate begleitete der Fotograf die Streetworker der Gruft Nacht für Nacht durch Wien. In dieser bisher für ihn verborgenen Welt „wurden Zustände und Umstände für mich sicht- und spürbar, welche ich normalerweise als unwahrscheinlich zurückgewiesen hätte. Oftmals ging ich mit einigen neuen Geschichten ohne einer einzigen Aufnahme nach Hause.“

Wohnungs- und obdachlose Menschen werden in besonderer Weise mit Vorurteilen und Ausschlussmechanismen konfrontiert, weiß Rainer. Mit seiner Bildserie „Unsichtbare Stadt“ und mit Diskussionen im Rahmen der Fotoausstellung will er der Öffentlichkeit eine realistischere Sicht auf die Armut in Wien nahelagen.

Rainer Nesset: „Es sind Bilder der Straße, keine künstlerischen Werke, bar jeder marktschreierischen Ästhetik, sie sind Abbild der Realität, sollen attackieren und provozieren.“


Die Ausstellungsserie „Unsichtbare Stadt“ startet am Dienstag, 28 .März 2000 im Aktionsradius Augarten, 1020 Wien, Gaussplatz 11. Ausstellungseröffnung 19:30 Uhr.

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