Rare Spezies Roma-AkademikerInnentun & lassen

Augustin besuchte Gandhi-Gymnasium in Pecs

In Pecs der europäischen Kulturhauptstadt des Jahres 2010 leben rund 10.000 Roma. Das ist ein Prozent der Roma-Gesamtbevölkerung in Ungarn. 800.000 davon sind arbeitslos. «Sie werden zu Vergehen gezwungen», lautet die nüchterne Aussage des Leiters des «Hauses der Roma-Selbstverwaltung» in dieser südungarischen Stadt, in der 160.000 Menschen leben.Die einzige Chance für eine Lösung dieser katastrophalen Situation bestehe im Zugang zur Bildung, sagt er. Nur sie ermögliche eine Integration dieser Volksgruppe in die ungarische Gesellschaft.

Was die Angelegenheit komplizierter macht: In Ungarn gibt es unterschiedliche Roma-Gruppen: etwa 70 Prozent machen die Romungri aus, ihre Sprache ist das Ungarische; die Beas sprechen eine alte rumänische Sprache mit ungarischen, kroatischen und Roma-Elementen; die Lacho Rom sind die traditionellste Roma-Volksgruppe. Ihre Sprache ist das Romanes.

Die Kultur der Beas ist am meisten gefährdet, unterzugehen und auszusterben, machen sie doch nur 5 bis 7 Prozent der ungarischen Roma-Bevölkerung aus. Diese Tatsache mag auch ein Grund dafür sein, dass gerade in Pecs ein Lehrstuhl für Romologie und ein Roma-Gymnasium das Gandhi-Gymnasium existieren. Wir besuchten diese Schule, hatten die Möglichkeit zu einem ausführlichen Gespräch mit der Direktorin, konnten an einigen Unterrichtsstunden teilnehmen und auch einen Blick in das angeschlossene Internat werfen. Und wir erfuhren Neues und Bekanntes.

Die Mehrheit der ungarischen Roma-Bevölkerung lebt in großer Armut auf dem Lande. Die Kinder werden erst spät eingeschult, weisen große Defizite an vorschulischer Erziehung auf. D. h. alles das, was Kinder im Kindergarten vermittelt bekommen, erste Regeln, Normen und Werte, erlernen Roma-Kinder meist nicht. Viele von ihnen haben bei der Einschulung noch nie einen Bleistift, geschweige denn ein Buch in den Händen gehabt. Deshalb werden sie von ungarischen Lehrern häufig in die letzte Schulbank gesetzt oder landen gleich in Sonderschulen für geistig Zurückgebliebene oder Verhaltensauffälige. Ihre schlechten Leistungen führen regelmäßig zu Jahreswiederholungen erniedrigende Situationen allemal und zu vorzeitigem Abbruch der Schule überhaupt.

Rekrutierungsreisen durch die Romadörfer der Region

«In Ungarn wird eine überproportional hohe Zahl der Roma-Kinder in Sonderschulen abgeschoben.Und zwar unabhängig von ihren intellektuellen Fähigkeiten. Laut Experten hängt das mit den nicht vorurteilsfreien Tests zusammen. Diese standardisierten Tests benachteiligen Roma-Kinder unverhältnismäßig, weil ihnen solche Erfahrungen fehlen. Meiner Meinung nach ist bereits die Existenz solcher Schultypen problematisch, denn sie fördern keine Integration der Roma-Kinder in das klassische Schulsystem, sondern deren Segregation», meint Dr. Katalin Forray, Leiterin des Lehrstuhls für Romologie an der Universität Pecs.

Das Gandhi-Gymnasium ist ein europaweit anerkanntes Modellprojekt. Die Schüler kommen aus der gesamten Region Süd-Transdanubiens. Die meisten von ihnen gehören zur Volksgruppe der Beas.

Wie erreicht man diese Kinder? Die Lehrer des Gandhi-Gymnasiums reisen Jahr für Jahr durch die Roma-Dörfer, sprechen mit den Familien und leisten dort Überzeugungsarbeit für ihre Ziele, begabten Kindern eine qualifizierte Schulausbildung zu ermöglichen. Das ist nicht leicht. Denn für viele Eltern bedeutet Schule aus ihren eigenen Kindheitserfahrungen Erfolglosigkeit, Ausgrenzung und Vorurteile. Sie glauben nicht wirklich, dass ihre Kinder mehr erreichen können als sie selbst. Außerdem sehen die Eltern ihre Kinder im Alter von 15 Jahren schon als finanzielle Unterstützer der Familie. Mädchen sind da schon oft selbst Mütter. Die Eltern müssen also erst davon überzeugt werden, dass eine höhere Bildung auch die Chancen ihrer Kinder als finanzielle Unterstützer verbessert.

Die Fernaufnahmeprüfung im jeweiligen Dorf besteht vor allem aus einem Gespräch, das fernab von standardisierten Tests auf die individuelle Begabung des Kindes Rücksicht zu nehmen sich bemüht.

«Ich sehe die unerhörte Energie der Kinder, ihr Talent und ihre Anpassungsfähigkeit», meint eine Lehrerin, die seit 20 Jahren mit Roma-Kindern arbeitet.

Das Erbe von Janos Bogdan

1992 gründeten verschiedene Roma-Organisationen und Roma-Intellektuelle die Stiftung Gandhi mit dem Ziel der Errichtung einer Mittelschule, in der vor allem Roma-Kinder zur Matura und zu einem späteren Studium begleitet werden sollten. Dank dem großartigen Engagement des früh verstorbenen Schulgründers, Soziologen und Roma-Intellektuellen Janos Bogdan (19631999) wurde das Gandhi-Gymnasium zu einem europaweit beachteten Pionierprojekt.

Die derzeitige Direktorin nannte uns die vier wichtigsten Ziele ihrer Institution: Eine qualifizierte Schicht von Roma, die sich mit ihrem Volk identifiziert und die Verantwortung für ihre Gemeinschaft übernehmen kann, soll ausgebildet werden; die Roma-Kinder sollen ihre Kultur kennen lernen können, denn an anderen Schulen Ungarns ist sie kein Unterrichtsfach; das Vorurteil, Roma-Kinder seien weniger lernbegabt, soll durch die Ergebnisse der Schüler widerlegt werden; Roma-Kinder sollen an ähnlich qualitativem Unterricht teilnehmen können wie ihre Nicht-Roma-Mitschüler.

Die Ausstattung der Schule ist zeitgemäß: eine große gutbestückte Bibliothek (11.000 Bände stiftete das Goethe-Institut), Informatik-Labors, eine Sporthalle, Fitnessraum und Internat. Die Lehrer sind Roma-Pädagogen, die Unterrichtssprachen sind Ungarisch, Beas und Lovan, dazu kommen fakultativ Englisch und Deutsch.

Das Gandhi-Gymnasium versteht sich als offene Schule, 20 Prozent der Schüler sind Nicht-Roma. Es ermöglicht auch Roma- und Nicht-Roma-Erwachsenen, die aus verschiedenen Gründen ihre Ausbildung nicht abgeschlossen haben, die Matura nachzuholen. Dazu gibt es Abendklassen und auch Fernunterricht.

Wie finanziert sich diese Schule? Neben der ungarischen Regierung, die den Hauptanteil trägt, stehen Privat- und EU-Gelder, z. B. die Stiftung Soros und das Phare-Programm der EU, zur Verfügung

Die Befürchtung einiger Politiker, dass das Gandhi-Gymnasium als Nationalitätenschule die Segregation der Roma weiter verstärken würde, könne leicht dadurch widerlegt werden, dass eben hier weitaus mehr an sozialer Betreuung und speziell ausgerichtetem Unterricht für die Roma-Community geboten werde als im Regelschulwesen Ungarns, meint die Direktorin. Die vielschichtige, systematische Diskriminierung, die von schlechten Erfahrungen und dem daraus resultierenden Misstrauen geprägt ist, und die durch mangelnde Bildung bedingte soziale Ausgrenzung machen geglückte Modelle wie das Gandhi-Gymnasium in Pecs dringend notwendig.

2010 haben 41 Schüler maturiert, 38 sind an Universitäten angemeldet. Der Anteil der Roma-Akademiker liegt zurzeit noch immer bei nur 1 Prozent. Aber immerhin, es gibt sie: eine kleine, selbstbewusste Roma-Elite von Anwälten, Lehrern, Ärzten.