«Raus aus dem Büro!»vorstadt

Seit über 20 Jahren beschreibt Uwe Mauch für den Augustin Menschen, die zum Gelingen der Stadt beitragen. Wer ist dieser Lokalmatador, von dem sein Fotografenfreund Mario Lang sagt, er sei alles, nur kein Schreibtischtäter? Ein Gespräch mit beiden in einem Gemeindebau in Wien-Neubau.

INTERVIEW: DAGMAR WEIDINGER
FOTOS: MARKUS LADSTÄTTER

Wie kam es zur Erfindung der Lokalmatador_innen?
Uwe Mauch: Ich habe die Genese des Augustin von Anbeginn an mitverfolgt. Es handelte sich ja um eine Initiative von Sozialarbeiterinnen auf der einen Seite und arbeitslos gewordenen Journalisten auf der anderen Seite. Gemeinsam importierte man die Idee einer Zeitung von und für Obdachlose, die es international bereits gab, nach Österreich. Ich fand das Projekt sofort super, aber ich brauche immer ein bisschen länger, um loszulegen. Es hat also 50 Ausgaben gedauert, bis der erste Lokalmatador im Jänner 2000 erschienen ist.
Was war die Idee hinter dem Format?
U. M.: Was mich als Journalist schon immer interessiert hat, sind Menschen, die etwas zu sagen haben, die aber ansonsten keine Stimme hätten. Auf diesem Weg sieht man, wie spannend diese Stadt ist, und dass nicht alles den Bach hinuntergeht und schiach ist. Der typische Lokalmatador sagt zu Beginn des Gesprächs: «Warum soll ich porträtiert werden?» Mario und ich bezeichnen das gerne so: «Menschen, die zum Gelingen der Stadt beitragen und keinen eigenen Pressesprecher haben.» Da fallen schon einmal alle weg, die viel reden und wenig sagen, die Lugners und die Karmasins – und wie sie alle heißen.
Mario Lang: Leider ist es ein trauriger Trend, dass mittlerweile bei immer mehr Menschen ein Aufpasser dabeisitzt. Erst neulich sprachen wir mit einem Anker-Bäckermeister in Anwesenheit der Presse­sprecherin. Du kannst mit Menschen, die ganz normale Berufe haben, nicht mehr einfach so plaudern!
U. M.: Wobei interessant war, dass sich dieser Bäcker überhaupt nichts pfiff. Manchmal sah man die Pressesprecherin richtig blass werden, wenn er einfach sagte, was er sich dachte.
Wer war denn der oder die erste Lokalmatador_in?
U. M.: Das war Frau Sylvia Murczek aus Kaisermühlen, die damalige Obfrau des Longinus-Clubs. Das ist ein Club für Menschen, die sehr groß gewachsen sind. Frau Murczek selbst war 1,89 Meter groß. Wir haben aber schon damals darauf Wert gelegt, die Menschen niemals bloßzustellen. Eine Zeit lang rief uns auch eine Menschen-Einsammlerin der Barbara Karlich Show an und fragte: «Welche Lustigen habt ihr jetzt schon wieder porträtiert?» Die hat unsere Serie nicht verstanden. Der Longinus-Club z. B. klingt zwar lustig, hat aber eine ehrenwerte Aufgabe, nämlich Menschen, die sehr groß gewachsen sind, im Alltag zu unterstützen – etwa bei der Frage, wie kommen sie zu Gewand oder zu einem Bett, und welches Auto passt.
Wie kommst du zu deinen Interviewpartner_innen?
U. M.: Die Lokalmatador_innen haben mittlerweile schon einen gewissen Stellenwert in der Stadt. Das heißt, manchmal werden Leute vorgeschlagen, meistens aber suchen wir sie aus.
Inwiefern ist das Zusammenspiel von Text und Bild für das Gelingen der Lokalmatador_innen von Bedeutung?
U. M.: Unsere langjährige Zusammenarbeit ist da ein wesentlicher Faktor. Mario und ich müssen nicht mehr viel miteinander reden, denn er fotografiert die Leute genau so, wie ich sie beschreibe: immer auf Augenhöhe, nie von oben herab.
Was macht ein «Foto auf Augenhöhe» aus?
M. L.: Das hat viel mit Bauchgefühl zu tun. Man spürt das, wenn man die Fotos später auf dem Display sieht. Gelungen ist ein Bild außerdem, wenn der_die Fotografierte und ich eine Freude haben. Ich habe nur einmal ein Meuchelfoto gemacht. Ich weiß nicht, ob wir das erzählen sollen …? Einmal haben wir uns vergriffen beim zu Porträtierenden. Da nahm ich dann bewusst nicht das schönste Foto.
U. M.: Das ist kein Geheimnis. Wir haben den Strache interviewt. Da brachen wir alle Regeln. Das Gute ist, dass wir ihn damals schon so darstellten, wie er dann gescheitert ist.
Was trägt H. C. Strache zum Gelingen dieser Stadt bei?
U. M.: Natürlich nichts. Außer dass einer diese Trottelarbeit machen muss. Nach Luhmanns Systemtheorie müssen alle Funktionen in einer Stadt ausgefüllt sein, damit sie läuft. Unser Motiv ihn auszuwählen, war aber, seine unfassbar ­dumme Rhetorik darzustellen.
Kommen wir zurück zum Bild auf Augenhöhe – wie sieht der dazu passende Text auf Augenhöhe aus?
U. M.: Ich lasse die Porträtierten immer alles vorab lesen.
Das klingt nach sehr viel Arbeit …
U. M.: Das klingt vielleicht großmütig, ist aber eigentlich egoistisch. Erstens finden die Leute immer Fehler – und wenn’s nur eine Kleinigkeit ist. Mich ärgert es total, wenn ein Name nicht stimmt. Schlimm ist auch eine falsche Jahreszahl. Außerdem sind uns diese Leute alle so sympathisch. Mir ist es auch wichtig zu betonen: Die wahren Stars sind die Porträtierten. Natürlich sind wir auch ­eitle Hund’, ansonsten wären wir vielleicht gar nicht Journalisten geworden. Aber wir versuchen, uns zumindest nicht so wichtig zu nehmen.
Siehst du dich mit den Lokalmatador_innen als Vorreiter des konstruktiven Journalismus, der aktuell immer populärer wird?
U. M.: Schön, wenn es diese Entwicklungen gibt. Jede Geschichte, für die man wo hingeht und mit Leuten redet, ist genau deshalb schon exklusiv. Diese Arbeitsweise ist mir ein Anliegen. Ich habe das aber nicht neu erfunden.
Bist du in deiner täglichen Arbeit beim Kurier nicht auch gezwungen, viel vom Büro aus zu machen?
U. M.: Es ist ein Auf und Ab. Ich erzähle dem Mario oft, was mir Probleme bereitet; aber ehrlich gesagt hat mir der Kurier auch extrem viel in meinem Beruf ermöglicht. Ich konnte so viele schöne Geschichten machen, Mario und ich waren sogar gemeinsam auf Weltreise … morgen fahren wir an die ukrainische Grenze.
Ich beobachte, dass es auch Kolleg_innen gibt, die den Schreibtisch nicht so gerne von sich aus verlassen. Ist es Eigeninitiative, die dich «auf die Straße» treibt?
U. M.: Ja, das ist schon meine Entscheidung. Vielleicht noch eine Kleinigkeit zur Ergänzung: Ich weiß mittlerweile auch die Newsdesk-Dienste zu schätzen. Das ist eine wichtige Arbeit, und sie kostet vor allem älteren Kollegen viel Kraft. Ich habe oft das Gefühl, wenn ich zwei Wochen nicht in der Redaktion war, gibt es schon wieder ein neues technisches Tool.
Seid ihr beide eigentlich Lokalmatadore?
U. M.: Nein.
M. L.: Nein.
U. M.: Na ja, er schon.
M. L.: Eigentlich ist doch fast jeder oder jede ein oder eine Lokalmatador_in. Der Uwe ist für mich ein Lokalmatador, weil er eben kein Schreibtischtäter ist, weil er immer ausrücken will. Er radelt dorthin, wo die Geschichten passieren. Das ist auch mein Verständnis von Journalismus: Im Büro schmeißt man den Text auf den ­Computer, aber ansonsten muss man draußen sein.
Wie würdest du den Lokalmatador Uwe Mauch betiteln?
M. L.: Raus aus dem Büro!
Und wie sähe dein Bild dazu aus?
M. L.: Am Fahrrad unterwegs. Der Uwe hat mir ja nicht nur den Augustin, sondern auch das Faltrad vermittelt.
Das kann man sich gut vorstellen – ein Foto am Fahrrad und vielleicht auch noch vor dem Gemeindebau. Uwe, du hast ja drei Bücher zu diesen Wiener Kult-Bauwerken geschrieben. Woher kommt diese Liebe?
U. M.: Ich habe mein ganzes Leben lang im Gemeindebau verbracht – bis heute! Wenn du wissen willst, wo ich wohne, wirfst du einen Blick auf die Wahlsprengel von Wien. Dort, wo Wien am dunkelblausten ist, bin ich zuhause. Im Norden von Floridsdorf. Für die Restwiener_innen ist das ja schon fast Ausland. Ich bin aber froh, dass ich dort wohne, da es mich als Berichterstatter erdet. Bei uns im Hof werden andere Themen verhandelt als in der Redaktion.
Welche zum Beispiel?
U. M.: Da braucht man sich nur die ganze Diskussion in der Pandemie anzuschauen. Ich würde nicht gerne wissen, wie viele von meinen Nachbar_innen geimpft sind – ich vermute nicht mehr als 30 Prozent. Zwei Drittel der Personen, die ich dort auf der Straße treffe, haben FPÖ gewählt. Das Spannende ist aber, dass das nicht alles Ungustln sind. Viele Menschen sind einfach von Informationen abgeschnitten …
Das heißt, du lebst Austausch mit den Leuten um dich im Gemeindebau?
U. M.: Na ja, Austausch finde ich ein bisschen zu romantisch gesagt. Aber ich rede mit den Leuten, und ich bin verwundert, welche Themen sie bringen.
M. L.: Der Uwe ist ein leidenschaftlicher Floridsdorfer. Das merke ich daran, dass ich für die Arbeit sehr oft über die Donau radeln muss. Würde man bei den Lokalmatador_innen eine Quotenregelung ­machen, gäbe es ein Problem, denn Floridsdorf ist sicherlich schwerst überrepräsentiert.
Apropos Radfahren – eure zweite große Leidenschaft neben dem Gemeindebau. Wie kommt ihr dazu?
M. L.: Uwe war schon ein Hardcore-Radfahrer, der jeden Tag in die Arbeit fuhr, als es noch hieß: «Der spinnt ja ein bisschen.» Ich war lange Zeit leidenschaftlicher Autofahrer und dachte mir anfangs auch nur: «Ist ja lieb, aber nichts für mich.» Er hat mich zum Radfahren gebracht.
U. M.: Meine Eltern wollten mir in der Gymnasialzeit kein Mofa kaufen. Damals bin ich draufgekommen: Mit dem Rad bist du eigentlich auch recht unabhängig. Ab da radelte ich jeden Tag in die Schule. Das war nicht ganz so cool wie bei denen, die mit ­ihren Vespas und Puch Maxis kamen, aber ich stellte trotzdem fest, dass es eine gute Alternative zur Straßenbahn war. An der Uni behielt ich das bei. Das war die Zeit, als die ARGUS gegründet wurde und es in Wien die ersten Fahrradboten gab. Auf einmal gab es da Leute, die genau das sagten, was ich zuvor nur gespürt hatte – und was wir mittlerweile alle wissen: Es ist gesund, umweltfreundlich, nachhaltig, … Das Radfahren war für mich immer schon ein bisschen Gesellschaftskritik. Heute würde ich sagen: Klimaticket plus Faltrad ist das schnellste Verkehrsmittel in Österreich. Das kannst du mit keinem Porsche schlagen.
Ist deine Faszination für die, die gesellschaftlich nicht unbedingt im Rampenlicht stehen, eigentlich aus deiner eigenen Geschichte entstanden? So wie du dich auf dem Fahrrad in der Gymnasialzeit eben schon von den Mitschüler_innen auf Vespas unterschieden hast?
U. M.: Bei den 500 Menschen, die wir im Laufe der Jahre für den Augustin porträtiert haben, fällt mir auf: Oft – nicht immer – ist das, was diese Leute heute leidenschaftlich tun, bereits in ihrer Kindheit ein Thema gewesen. Ich bin da wohl nicht viel anders. Die Mitschüler_innen mit den Vespas waren es nicht, aber das Setting eines Gemeindebaus, in dem alle ungefähr gleich viel gehabt haben und wo im Wesentlichen auf niemanden vergessen wurde, das war’s schon eher.
Uwe, was magst du an der Kulisse der Lokalmatador_innen, sprich an Wien, besonders?
U. M.: Wenn man den Blick von ­außen wagt, ist Wien gar nicht so moralisch heruntergekommen wie man oft denkt. Natürlich gibt es die FPÖ, die Impfverweigerer_innen, die, die in parlamentarischen U-Ausschüssen bewusst nicht die Wahrheit sagen, und und und. Gleichzeitig sehe ich aber so viele spannende Stadtentwicklungen, die häufig von den Menschen, die hierhergekommen sind, stammen – egal ob sie aus Kärnten, Bosnien oder Syrien kamen. Sie alle haben diese sehr reiche Stadt noch viel reicher gemacht.
Woher nimmst du den Blick von außen?
U. M.: Ich habe mich neben Wien, wo ich geboren bin, noch mit einer zweiten Stadt sehr intensiv beschäftigt – mit ­Zagreb. Meine Frau ist Kroatin, und meine Kinder sind dort geboren. Wenn ich Zagreb mit Wien vergleiche, fällt auf, dass Zagreb noch viel dörflicher ist. Es fehlt die Vielfalt. Aber natürlich ist das ein bisschen chauvinistisch, wenn man in Wien geboren ist, schlecht über eine andere Stadt zu sprechen. Meine Familie weiß das zum Glück.
M. L.: Es kann halt nicht jede_r in Floridsdorf wohnen.
Zuletzt: Wer war der oder die spannend­ste Lokalmatador_in?
U. M.: Alle sind immer spannender als man denkt. Und man kommt immer auf irgendetwas drauf. Ich schreibe auch nicht nur einfach 4.650 Zeichen (= Textlänge der Lokalmatador_innen, Anm.), ich nehme immer so viel für mein Leben mit!