Reality – Solidarity – Surprisevorstadt

Start am 18. Mai: Stadtspaziergänge mit dem Augustin

Die Stadtspaziergänge, die der Augustin unter dem Titel «Strawanzerei» anbietet, werden sich wenig um die Pflege jener Klischees kümmern, durch die das offizielle Wien punkten will. Robert Sommer, Mitinitiator der Strawanzereien, über die Hintergründe des neuesten Augustin-Projekts.

Foto: Mario Lang (In der Hauptrolle der ersten Folge des neuen Augustin-Projekts «Strawanzerei»: Maria Kratky)


Mithilfe von Guides aus den marginalisierten sozialen Milieus die soziale Realität einer sehr reichen Stadt zu fokussieren, ist keine Erfindung des Augustin. Auch in Wien hat das Inte­resse, hinter die oft nur potemkinschen Fassaden der «bestverwalteten» Hauptstadt Europas zu blicken, zu alternativen Stadtführungs-Angeboten geführt. Diese Projekte nehmen zum Teil die Hilfe von Augustin-Verkäufer_innen in Anspruch. Umso plausibler war der an den Augustin herangetragene Wunsch, die gehäufte Überlebenskampf-Kompetenz seiner Straßenkolporteur_innen zu einer Quelle speziellen Wissens zu machen.

In Maria Kratky vereint sich diese Überlebenskompetenz mit der Leidenschaft, mit der sie sich in das Augustin-Projekt integriert hat, und mit ihrem (vor der Augustin-Zeit ungestillten) Verlangen, mit anderen Menschen auf Augenhöhe zu kommunizieren. Es kommt also nicht von ungefähr, dass der monatliche Reigen der «Strawanzereien» mit Maria Kratky beginnt. Die 62-jährige Wienerin zählt zum Urgestein des Augustin, der für sie mehr als eine karitativ veranlagte Vertriebsfirma ist.

Maria ist bei allen Interventionen dabei, die dem Augustin im Kampf gegen den Ausschluss der «Verlierer_innen» aus dem gesellschaftlichen System einfallen. Nie scheut sie sich, ihre Meinung vor laufenden Kameras ans Tageslicht zu bringen; von vielen Medien war zum Beispiel ihr Engagement gegen die Zeitungsverkauf-Verbote auf vielen Christkindl- und Adventmärkten in Wien aufgegriffen worden. Maria Kratky nährt immer wieder die Hoffnung, dass es Betroffenen möglich ist, ohne Fürsprecher_innen auszukommen und zu Selbstsprecher_innen ihrer Interessen zu werden. Regisseur Hubsi Kramar setzte ihr ein Denkmal, als er sie zum Darsteller_innenstab eines Kinofilms der Serie «Wonderful» erwählte. Dieses gesellschaftskritische Zeitdokument setzte sich mit dem leider weit verbreiteten Ressentiment gegen die ins «Sozialschmarotzer»-Eck gestellten Armen auseinander, die sich erdreisten, einmal in ihrem Leben Urlaub am Meer zu genießen. Maria Kratky bewies auch Mut, als sie sich entschloss, neu in den «Punkchor» des Augustin, das «Stimmgewitter», einzutreten. «Mein Alzheimer hat keine Chance», lacht sie, wenn sie auf die Anstrengung angesprochen wird, nun Dutzende Songtexte nachzulernen.

Maria Kratky wird also den Teilnehmer_innen der ersten Strawanzerei einiges zu erzählen haben. Diese werden zunächst mit dem Hauptarbeitsfeld Marias vertraut gemacht, mit dem Augarten. Dort ist die Verkäuferin zu einem lebendigen Aushängeschild des Augustin geworden.

Strawanzerei mit drei Stationen. Reality – Solidarity – Surprise, so benennt das Organisator_innenteam der Strawanzerei die drei Stationen, die in der Regel die chronologische Struktur des Stadtspaziergangs bilden werden. In Station Nr. 1 erfährt die Spaziergänger_innengruppe etwas, was es in einer Stadt nicht mehr geben dürfte, die seit hundert Jahren von einer Partei geleitet wird, die programmatisch von Werten wie Gleichheit und Gerechtigkeit ausgeht. Station Nr. 2 ist Personen und Projekten gewidmet, die zur Hoffnung Anlass geben, dass die Spaltung der Stadt in Arm und Reich nicht unüberwindbar ist. Im Fall der ersten Strawanzerei liegen die alternativen Radiomacher_innen von Orange 94.0 günstig auf der Tourenstrecke: Protagonist_innen dieses kommerzfreien Radioprojekts stellen Sendungen vor, die von Menschen gemacht werden, denen der Zutritt zu herkömmlichen Medien verschlossen bleibt.

Endpunkt der ersten Strawanzerei ist der Besuch eines neuen Freiraums der politischen und künstlerischen Experimente in Wien – des Perinetkellers im 20. Bezirk. Die Spaziergänger_innen der Strawanzerei Nr. 1 werden hier – in diesem ehemaligen Kelleratelier des umstrittenen Wiener Aktionismus der 1960er-Jahre – mit einem textlich-musikalischen Programm zu H. C. Artmann begrüßt.

Dass gerade der Augustin zur Entwicklung von Stadtspaziergängen dieser Facon prädestiniert ist, liegt auf der Hand. «Sie sind», so formulierte es das Projektteam, «wie das gesamte Augustin-Projekt Fenster, die den Beteiligten Einblicke in sonst verschlossen bleibende Wirklichkeiten gewähren: nie oder kaum betretene Welten, wie die des Randes, der Depression, der aus Angst vermiedenen Unorte, des Ausstiegs, der wirklichen (nicht eingebildeten) Unsicherheit, des Überlebenskampfes, der Queerness, des Ausnahmezustands, des Rotlichts, des Drecks, des Widerstands, der Delinquenz, des Wahnsinns, der Utopie …» Nicht mehr und nicht weniger.

 

Strawanzerei Nr. 1

Do, 18. Mai

Treffpunkt: 16.30 Uhr vor dem Eingang der M.U.T.H-Konzerthalle am Augartenspitz,

U2-Station Taborstraße

Teilnahmebeitrag: 15 Euro

Anmeldung erwünscht:

strawanzerei@augustin.or.at

Die nächste Strawanzerei

findet am Di, 13. Juni statt