Angehörige und Freund_innen aus Afghanistan herausholen – das haben viele Menschen in Österreich seit der Machtübernahme der Taliban versucht. Bundeskanzler Kurz beharrt währenddessen darauf, «freiwillig» keine Afghan_innen aufzunehmen.
Text: Ruth Weismann
Fotos: Jana Madzigon
Drei Stunden nach ihrem Kaiserschnitt will Maryam nach Hause. Ihr Mann holt sie aus dem Krankenhaus ab, sie kann ihre Beine kaum bewegen. Normalerweise bleibt man nach einem Kaiserschnitt mehrere Tage im Spital, bekommt Infusionen, Schmerzmittel, wird medizinisch beobachtet. Aber Maryam hat Angst, dass die Taliban sie finden. Ihr Baby kam am 17. August in Kabul zur Welt, zwei Tage, nachdem die Terrorgruppe die afghanische Hauptstadt eingenommen hatte. Ein entfernter Verwandter, der auf dem Land lebt, ist Mitglied der Taliban. Maryam wusste nichts davon, sie hat seit vielen Jahren keinen Kontakt zu dem Mann. Aber jetzt hat er gedroht, sie umzubringen. Sie werde dafür büßen, sagte er, dass ihre Schwester nach Österreich gegangen und, in seinen Augen, «keine Muslimin» mehr sei.
Nahid kann kaum mehr schlafen, seit Maryam ihr von der Drohung erzählt hat. Nahid ist Maryams Schwester und lebt seit 20 Jahren in Wien. Beide heißen eigentlich anders, möchten ihre richtigen Namen aber nicht in der Zeitung lesen. Nahid ist österreichische Staatsbürgerin. «Ich weiß nicht, was ich machen soll», sagt sie verzweifelt. «Soll ich an Michael Ludwig schreiben?»
Nahid setzt Hoffnung in den Wiener Bürgermeister, der getwittert hatte, dass Wien bereit sei, gefährdete Menschen aus Afghanistan aufzunehmen, während Innenminister Karl Nehammer noch immer davon sprach, Afghan_innen aus Österreich abschieben zu wollen. Aber sie weiß, dass Ludwig in dieser Sache nichts entscheiden kann.
Rettungsversuche.
Inzwischen fliegen die Evakuierungsflugzeuge der USA und verbündeter Länder und bringen gefährdete Menschen aus Kabul – bis 31. August. Österreichische Staatsbürger_innen und Menschen mit gültigem österreichischem Aufenthaltstitel wolle man so aus Afghanistan retten, hatte Außenminister Alexander Schallenberg angekündigt. Österreich schickte selbst aber keine Flugzeuge, sondern kooperiert mit Deutschland.
Nahid möchte Maryam helfen, mit ihrem Mann und den drei Kindern in einen dieser Flieger zu gelangen. Gemeinsam verfassen wir E-Mails. Wir schreiben an das Außenministerium, an die zuständige österreichische Botschaft in Pakistan, an das Auswärtige Amt in Deutschland und an eine deutsche Aktivistin, die sich für die Evakuierung gefährdeter Menschen ohne Aufenthaltstitel einsetzt. Die Zeit läuft. Mit jedem Tag, der vergeht, sinkt Nahids Hoffnung. Per WhatsApp schickt Maryam Fotos von den Geburtsurkunden ihrer Familie. Sie haben keine Pässe und keine Personalausweise.
Der Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger ortete mangelnden Willen der österreichischen Regierung, was die Evakuierungen betrifft. «Auch Österreich hatte Polizisten und Bundesheerangehörige in Afghanistan», sagte er im Telefonat mit dem Augustin am 25. August. «Und damit auch Ortskräfte, also lokale Afghanen, die mit den Österreichern zusammengearbeitet und jetzt auch Angst haben vor möglichen Racheakten. Aber die hat Österreich noch nicht rausgeholt. Österreich arbeitet bei den Evakuierungen mit Deutschland zusammen, das macht natürlich Sinn. Aber ich glaube nicht, dass das österreichische Außenministerium per se so viel unfähiger wäre als das deutsche, auch Flieger hinzuschicken. Sich da nur dranzuhängen und zu sagen: ‹Liebe Deutsche, bringt sie mit›, ist sicher nicht ausreichend.»
Nahid hofft, dass ihr eigener Status als Österreicherin für ihre Schwester von Vorteil ist. Vom Außenministerium kommt am 23. August eine Antwort per E-Mail: «Derzeit kommen aus Kapazitätsgründen nur Personen mit Österreichbezug (österreichische Staatsbürger oder Personen mit österreichischen Aufenthaltstitel (sic!)) für eine Evakuierung per Flugzeug in Frage. Auch diese Personengruppe hat derzeit Schwierigkeiten, den Flughafen in Kabul zu erreichen.» Tatsächlich gibt es zu dieser Zeit Berichte, wonach die Taliban nur mehr Leute mit ausländischen Pässen zum Flughafen in Kabul vorlassen. In einem zweiten E-Mail wird versichert, dass Maryams Familie in die Liste jener Personen aufgenommen wurde, die «eine Nahebeziehung zu Österreich aufweisen und sich derzeit in Afghanistan befinden. Dies stellt allerdings weder eine Garantie dar, dass die genannte Person aus Afghanistan ausreisen kann, noch ein Präjudiz, ob ein Aufenthalt in Österreich möglich ist.» Auf Nachfrage per Telefon sagt mir eine Mitarbeiterin, dass sich tausende Menschen mit der Bitte, Personen aus Afghanistan zu holen, ans Außenministerium gewandt hätten, aber dem Ministerium die Mittel fehlen würden.
Währenddessen finden fast täglich Demonstrationen in Österreich statt, bei denen sich Menschen für die Aufnahme von bedrohten Afghan_innen aussprechen. Die Demos geben Nahid Kraft. «Die österreichische Regierung ist so hart», sagt sie. «Jeder würde doch die eigene Schwester retten wollen.»
Zerrissene Familien.
Etwas mehr als 100 Personen sind nach Angaben des Außenministeriums mit österreichischer Hilfe schlussendlich aus Afghanistan gebracht worden, zum Teil über den Landweg. Mehr als 122.000 Personen hatten die USA und deren Alliierte insgesamt evakuiert, aber nicht einmal alle Ortskräfte und deren Familien wurden gerettet. Und es wollen noch viel mehr Menschen das Land verlassen. Maryam ist zwar die Schwester einer österreichischen Staatsbürgerin, was jedoch keinen Rechtsanspruch auf irgendetwas begründet. Es gibt aber Menschen in Afghanistan, die das Recht hätten, in Österreich zu sein.
«Der eigentliche Skandal ist, dass es Leute gibt, die ein Recht darauf hätten, hier zu sein, und die jetzt festsitzen. Da geht es um Familienzusammenführungen, die lange verschleppt wurden», erklärt Thomas Schmidinger.
Das bestätigt Sima Mirzai von IGASUS, der Interessengemeinschaft der afghanischen Studierenden und Schüler. «Genaue Zahlen kann ich nicht sagen, aber es gibt viele, die in den letzten Jahren einen positiven Asylbescheid bekommen haben, aber ihre Familien sind noch nicht hier», sagt sie im Telefongespräch mit dem Augustin. Sie erzählt von einem Vater, der fünf Jahre auf seinen positiven Asylbescheid gewartet hatte und nun seit über einem halben Jahr auf die Familienzusammenführung wartet. «Er hat eine Frau und mehrere minderjährige Kinder in Afghanistan. Die konnten nicht herkommen.»
Gemeinsam mit vielen zivilgesellschaftlichen Organisationen hat IGASUS am 24. August ein Forderungspapier zur Rettung von bedrohten Menschen aus Afghanistan präsentiert. «Wir haben an die Regierung appelliert, dass die Menschen, die hier leben und anerkannte Flüchtlinge sind, die Chance haben sollen, ihre Familien herzuholen», erklärt Mirzai. Der Verband kritisiert unter anderem die lange Dauer der Verfahren von Familienzusammenführungen sowie hohe bürokratische Hürden. Im Telefongespräch erwähnt Mirzai auch die zuständige MA 35 in Wien, von der kürzlich unglaubliche Missstände bekannt wurden – von systematisch nicht beantworteten Telefonanrufen bis hin zu liegengelassenen Anträgen.
Mit dem Verstreichen der Zeit wurde auch die Situation in Kabul zunehmend schwieriger für Rettungsaktionen. Am 26. August starben bei dem Anschlag vor dem Flughafen mehr als 170 Menschen. Einen Tag darauf beendeten Deutschland und viele andere Länder ihre Evakuierungsflüge. Ob eine (sichere) Ausreise in Zukunft möglich sein wird, ist noch nicht klar.
Neue Orte zum Leben.
Nun bleiben die Resettlement-Programme der UNO als Möglichkeit, Menschen etwa aus Flüchtlingslagern aufzunehmen. Kurz und Nehammer betonen aber stets, freiwillig keine afghanischen Flüchtlinge aufnehmen zu wollen. Gerne wird damit argumentiert, dass schon so viele Afghan_innen hier leben, nämlich rund 44.000. «Ja, es gibt viele Afghanen in Österreich», bestätigt Thomas Schmidinger. «Aber die hat Österreich nicht im Rahmen von Resettlement-Verfahren aufgenommen, sondern die haben es nach Österreich geschafft und einen Asylantrag gestellt. Wenn sie Asylgründe haben, dann haben sie ein Recht auf Asyl. Das ist ein Recht und kein Gnadenakt. Wenn sie keine Asylgründe haben, bekommen sie sowieso kein Asyl. Die kamen nicht aufgrund einer großzügigen Aufnahmepolitik.»
Schmidinger erwartet sich von Österreich, Afghan_innen aktiv aufzunehmen. «Und das zweite, was ich mir erwarte, ist, dass dieses Gerede von Innenminister Nehammer von den Abschiebungen nach Afghanistan aufhört. Denn um Abschiebungen durchzuführen, müsste Österreich auch die Regierung der Taliban anerkennen. Österreich darf da auf keinen Fall einen Alleingang machen. Die EU muss eine gemeinsame Linie gegenüber Afghanistan fahren.»
Maryam und ihre Familie sind immer noch in Afghanistan. Die Familie ist umgezogen, um sich sicherer zu fühlen. «Ich habe ihr gesagt, wir schauen in einem Monat, was geht», erzählt Nahid in Wien. «Vielleicht kann sie dann irgendwie das Land verlassen.»