Reden und reden lassenArtistin

Talk Radio, das Live-Gespräch im Studio oder via Telefon, erfreut sich großer Beliebtheit. Sechs Radioaktivist_innen geben Auskunft
über die Langlebigkeit und die Besonderheiten dieses Sendeformats.

TEXT: JULIA GRILLMAYR
FOTOS: CAROLINA FRANK

Kürzlich ging ein Posting durch die Sozialen Medien, das sich in etwa so las: «Ach, hätten wir doch eine Art Podcast, der live ausgestrahlt würde, sodass man sich über aktuelle Geschehnisse informieren und austauschen kann!» Das war vermutlich ein Scherz. In jedem Fall stellten andere User_innen hilfsbereit fest: «Gratuliere, du hast Radio erfunden!» Audioformate erfreuen sich seit einigen Jahren großer Beliebtheit, wobei die Grenzen zwischen dem allein im Internet lebenden Podcast und dem klassischen Radio, das über die terrestrische Welle sendet, immer mehr verschwimmen. Podcasts werden professioneller und kommerzieller, und Radiosender stellen ihre Inhalte im Internet zur Verfügung. Ein guter Ausgangspunkt, um über diesen Zusammenhang und das zeitgenössische Radio im Allgemeinen nachzudenken, ist das recht urtümliche Format des Talk Radio.
In Nordamerika groß geworden und dort nach wie vor besonders beliebt, versteht man darunter jene Sendungen, in denen das gesprochene Wort im Vordergrund steht. Klassischerweise sprechen Moderator_innen live mit Gästen im Studio, und Hörer_innen können sich per Telefon einbringen. So gestaltet sich hierzulande etwa die Ö1-Sendung Punkt eins. «Ein Sender braucht solche Formate», sagt Marlene Nowotny. «Dieser Austausch mit den Hörer_innen ist sehr wichtig, um ein Gefühl dafür zu bekommen, was sie interessiert.» Die Radiojournalistin arbeitet seit 2007 bei Ö1 in diversen Formaten und Sparten, unter anderem auch als Moderatorin bei Punkt eins.
Auch wenn aus dem Radiogerät idealerweise ein angeregtes, aber lockeres und angenehm dahinfließendes Gespräch tönt, ist es für die Macher_innen einer solchen Sendung alles andere als einfach, einfach drauflos zu plaudern. Nowotny liest sich im Vorfeld ausführlich in die Themen und die Arbeiten ihrer Gesprächspartner_innen ein und geht meist mit zirka vier beschriebenen A4-Seiten in die Aufnahme, erzählt sie, «wobei ich oft zwei Drittel der Fragen nicht stellen kann, weil keine Zeit mehr bleibt». Diese gründliche Vorbereitung sei für die Qualität des Gesprächs nötig, aber auch, um auf jeden Fall genügend Gesprächsstoff zu haben, um eine Stunde zu füllen. Zwar komme es extrem selten vor, dass gar niemand anruft, aber auch dafür müsse man gewappnet sein. Was Nowotny an diesem Sendeformat besonders schätzt: «Man kriegt mit, dass sehr unterschiedliche Leute zuhören und anrufen. Menschen, mit denen ich und auch die Gäste im Alltag sonst nicht notwendigerweise ins Gespräch kommen würden.»

Viel Feedback.

Dass Hörer_innen in solche Call-in-Formate besonders involviert sind, ist auch daran ablesbar, dass Ö1 nach jeder Punkt eins-Sendung sehr viel Feedback erreicht. «Es wird extrem gut und genau zugehört», sagt Nowotny. Auch gebe es sehr unterschiedliches Feedback für das Unterbrechen von Anrufer_innen oder Gästen durch die Moderation. Das werde von einigen als notwendig, von anderen als unhöflich empfunden. Diese Erfahrung hat auch Philipp Blom gemacht. «Zu unterbrechen ist wichtig, wenn das Statement zu ausufernd oder zu spezifisch wird», sagt der Schriftsteller und Historiker, der ebenso Punkt eins auf Ö1 moderiert. Er beobachtete, dass er in Österreich dafür viel mehr negative Rückmeldungen bekommt als bei vergleichbaren Sendungen in Deutschland, England oder den Niederlanden.
«Es ist toll, Hörer_innen zu involvieren, weil das Aspekte in die Sendung bringt, die sonst gar nicht vorgekommen wären», sagt Blom über Call-in-Formate. Die Herausforderung oder vielmehr «die Kunst», eine solche Sendung gut hinzukriegen, sei die Koordination und die Balance der verschiedenen Elemente. Während einer Punkt eins-Aufnahme haben die Moderator_innen Blickkontakt zu ihren Gästen im Studio – wenn diese nicht Corona-bedingt gerade woanders sitzen müssen – und tauschen sich über nonverbale Zeichen und Körpersprache aus. Neben der tickenden Uhr ist auch im Auge zu behalten, welche Hörer_innen in der Leitung warten oder ob Fragen per E-Mail eingetroffen sind. Dabei steht ihnen die Regie zur Seite sowie Personen, die die Anrufe entgegennehmen und notieren, zu welchem Thema die Wortmeldung passt. Auch sollte hin und wieder ein Musikstück gespielt werden. «Man hat zwei Bildschirme vor sich und muss oft mit einem Ohr aus dem Gespräch rausgehen, um auf die Regie zu hören», schildert Marlene Nowotny.

Wenig Architektur.

Weder Nowotny noch Blom würden Punkt eins als klassisches Talk Radio bezeichnen. Da denke sie eher an Formate, in denen die moderierende Person stark im Vordergrund steht und eine eigene Position einnimmt, sagt Nowotny. Blom assoziiert den Begriff mit Sendungen, «die stundenlang dahingehen und wenig Architektur haben». Vielleicht hat sich diese Art von Talk Radio ja tatsächlich in den Bereich des Podcastings verlagert, wo weder Sendeplätze noch Zeitbeschränkungen tonangebend sind. Gewissermaßen zwischen den Stühlen sitzt das Freie Radio oder Community Radio. Es vereint die Infrastruktur eines Radiosenders mit der hohen Zugänglichkeit und dem Do-it-yourself-Charakter von Internetformaten, denn hier kann potenziell jede_r ehrenamtlich Radiomacher_in werden.
Eines der Urgesteine im Programm von Radio Orange 94.0, dem Freien Radio in Wien, ist Herbert Gnauers Radio Dispositiv. Alle zwei Wochen ist hier ein einstündiges Gespräch über Kulturelles oder Politisches zu hören, das er mit seinen Gästen live führt oder vorproduziert. Letzteres sei oft entspannter, sagt Gnauer: «Bei heiklen Themen hat das den Vorteil, dass man freier sprechen kann und sich auch mal verlaufen darf.» Wenn die im Voraus aufgezeichneten Gespräche länger als die eine Stunde Sendezeit dauern, macht er daraus eine ausführlichere Podcast-Version. «Ich lasse ungern Sachen weg, weil das Gespräch einen gewissen Verlauf hat. Es ist wie eine Mindmap.» Macht Herbert Gnauer also Talk Radio? «Insofern, dass die Sendung dem Gesprächsverlauf folgt, ja. Insofern, dass ich gleich viel spreche wie meine Studiogäste, nein.» Er versteht sich nicht als Mitdiskutant, sondern als Frager und interessierter Ersthörer, die Sendung als eine Fläche für die Menschen, die darin zu Gast sind.
«Ich sehe mich in der Rolle des Anwalts des Publikums», sagt Philipp Blom zu seinem Selbstverständnis als Moderator. Dazu gehöre es, darauf zu achten, dass die Sendung verständlich und ausgeglichen ist. «Wichtig ist auch, dass es ein spontanes und lebendiges Gespräch bleibt.» Dabei sei es gar nicht so einfach festzumachen, was eine gute Sendung ausmacht, beziehungsweise liegt das nicht immer in der Kontrolle der Radiomacher_innen. «Es kommt vor, dass wir berühmte Persönlichkeiten einladen, die mit den höchsten Empfehlungen kommen. Bei der Aufnahme haben sie aber Jetlag oder einfach keine Lust, und das Gespräch wird flach», erzählt Blom. Umgekehrt sei es auch vorgekommen, dass er sich im Vorfeld nicht sicher war, ob die eingeladene Person oder das spezifische Thema eine ganze Sendung füllen könne, und dann seien es magische Aufnahmen geworden. Vor allem die Spontanität und Direktheit von Live-Sendungen könnten geradezu bezaubernde Momente hervorbringen. «Es kann aber auch passieren, dass ein Gast gar nicht kommt oder dass jemand einen Hustenanfall hat», sagt Blom. Auch das sei Teil des Live-Radio-Alltags.
«Die Studioluft bringt oft große Nervosität mit sich», erzählt Maiada Hadaia, «aber Lampenfieber kann auch gut für die Konzentration sein.» Die Journalistin arbeitet seit 1998 unter anderem bei Radio Orange als Sendungsmacherin und Trainerin. «Immer schön wendig und flexibel bleiben, sich auch einmal etwas trauen und Reibungsflächen zulassen», mit diesen Grundregeln geht Hadaia an Interviews heran. Auch bei guter Vorbereitung könne es passieren, dass unpassende Inhalte oder nicht überprüfbare Informationen aufkommen, die man nicht unkommentiert stehen lassen darf. Dann müsse man gegebenenfalls auch den Mut aufbringen zu sagen: «Um darauf zu reagieren, brauche ich mehr Zeit.» Nichtkommerzielle Medien, die neben den privaten und öffentlich-rechtlichen auch als «dritter Sektor» bezeichnet werden, sieht Hadaia in einer ganz speziellen Rolle; ihre Grundsätze gingen noch über die allgemeine journalistische Ethik hinaus. «Dazu gehört die Einsicht, um es mit Hannah Arendt zu sagen, dass das Private politisch ist», sagt Hadaia. Daher gilt: «Sobald etwas on air ist, ist es politisch.» Wichtig ist ihr eine weltoffene, humanistische und feministische Herangehensweise, die sich in der Recherche, der Gesprächsführung, aber auch in der Einladungspolitik widerspiegeln sollte. «Nur aalglatt und an der Oberfläche bleiben, birgt weniger Risiko, ist aber langweilig und sicherlich nicht das, was ich mir unter alternativer, kritischer Medien­arbeit vorstelle.»

Alles kann, nichts muss.

Auch Alexandra Augustin von FM4 spricht von der Wichtigkeit, mit einem «weltoffenen Blick» an Themen heranzugehen. Auf Diskus­sionssendungen bereite sie sich akribisch vor, wobei sie besonders schätzt, dass bei FM4 innerhalb von Redaktionssitzungen viel diskutiert wird und man dabei schon verschiedene Blickpunkte einholen kann. Meist habe sie dann noch eine Woche Zeit, in der sie mit ihrem Redakteur über den Aufbau der Sendung beraten kann. «Wir schreiben uns dann Fragen hin und her wie Ping-Pong-Bälle», sagt Augustin. Am Ende kommt etwas heraus, das sie als Schummelzettel bezeichnen würde; Unterlagen, die übersichtlich aber so detailreich wie möglich sind. «Ein solches Interview ist wie ein Schiff zu steuern, und man weiß nie ganz genau, wohin es gehen kann», sagt Augustin. Daher sei die Devise: «Alles kann, nichts muss.» Es gehe nicht darum, die Fragen durchzupeitschen, sondern seinem Gegenüber sehr aufmerksam zuzuhören.
Beim genauen Zuhören weitere Fragen zu entwickeln, aus denen sich das Gespräch spinnen kann, so geht Ramin Siawash an seine Gesprächssendungen auf Radio Orange heran. Bei der Recherche im Vorfeld ist es ihm vor allem wichtig, sich zu überlegen, welcher Kontext und welcher Gesprächs­ton für die jeweiligen Gäste passt. In Afghanistan, wo der studierte Betriebswirt, Journalist und Informatiker geboren wurde, moderierte und produzierte er eine Sendung, die von 8 bis 16 Uhr lief, wobei er vor allem Frauen einlud, um Fragen zu stellen und Themen einzubringen. «Ich möchte jenen eine Stimme geben, die sonst ungehört bleiben», sagt Siawash über seine Medienarbeit. Seit 2015 lebt er in Österreich und macht auf Radio Orange unter anderem die Diskussionssendung Saia Roshan. Die Stimmen, die er in diesem Rahmen verstärkt, gehören geflüchteten Menschen, Aktivist_innen und Vertreter_innen der Zivilgesellschaft. Immer wieder hätten sich dabei Netzwerke und Kontakte ergeben, die den Menschen direkt geholfen hätten.
«Es motiviert mich auch, dass es die Möglichkeit gibt, in unterschiedlichen Sprachen zu arbeiten», erklärt Siawash. Mehrsprachigkeit sei ein wichtiger Aspekt der Freien Medien, wobei er sogar in vier Sprachen Sendungen gestaltet, nämlich auf Deutsch, Englisch, Paschto und Dari. Sobald es seine Zeit und Kapazitäten zulassen, würde er gerne den Live- beziehungsweise den Talk Radio-Charakter seiner Sendungen noch ausbauen. Ihm schwebt ein Format vor, bei dem Menschen anrufen können, um über Alltägliches zu sprechen, das sie beschäftigt. «Dafür reicht ein wöchentlicher Sendeplatz nicht aus, da bräuchte man fast einen täglichen Slot», sagt Siawash, und man bräuchte mehr Marketing, um Menschen zu erreichen. Auch hinter dieser Sendungsidee steckt der Anspruch, die Zugänglichkeit zu erhöhen und Stimmen, die kaum präsent sind, hörbar zu machen.
Um das Medium zu öffnen und auch das Publikum mitreden zu lassen, ist der Live-Aspekt ganz zentral, wie auch Alexandra Augustin betont. «Dieser Moment, dass jetzt gerade etwas passiert und man Teil davon werden kann, ist etwas sehr Wichtiges.» Auch bei FM4 gibt es einige Sendungen, in denen sich die Hörer_innen über Anrufe einbringen können, es findet aber auch ein reger Austausch über die Sozialen Netzwerke statt. «Diese Medien ergänzen sich», ist Augustin überzeugt. Der Hype rund um Podcasts, aber auch neue Formate wie das audio-basierte Netzwerk Clubhouse, in dem man sich zum Diskutieren trifft, erinnere Augustin ein bisschen an die Aufbruchsstimmung der Pirat_innenradio-Bewegung der 1980er Jahre. Da wurden Sendefrequenzen gekapert, um die Medienlandschaft diverser zu machen;
unter anderem ging daraus auch Radio Orange hervor. Diese Unmittelbarkeit, dieser «punkige Moment» des Live-Radios, wie Augustin sagt, ist also alles andere als passé.