Reinhören in eine verschlossene Welttun & lassen

Häfnradio. Im streng regulierten Haftalltag gehen Selbstständigkeit und Selbstbewusstsein verloren.
Ein Radioprojekt für junge Frauen im Maßnahmenvollzug will gegensteuern.

Text: Angelika Burgsteiner
Illustration: Asuka Grün

Drei junge Frauen um die zwanzig, sie singen und hören leidenschaftlich gern Musik, träumen von Haus mit Garten, Haustieren und Kindern. Weißer Raum, kahle Wände, draußen geht die Welt zu Ende, ist einer der Liedtexte, die sie durch ihren Alltag begleiten. Ein Alltag in Haft, und das seit mehreren Jahren. Davon erzählen sie nun in ihrer eigenen Radiosendung, dem ersten Häfnradio – einem Brückenbau-Projekt zwischen drinnen und draußen.

Wie oft hab’ ich mich gequält …
Sie kamen mit mir einfach nicht klar …
Doch was ich heute weiß, ist:
Wenn sie sagen, du bist anders, und die Hoffnung erlischt,
sagt das nur eins, und zwar, dass du
etwas Besonderes bist.

Dieser Song des Salzburger Rappers Dame (bürgerlich Michael Zöttl) wurde zur inoffiziellen Hymne des Häfn­radios. So wie du bist beschäftigt sich mit den Besonderheiten jedes Menschen, aber auch mit den Unzulänglichkeiten und Macken – eine Realitätsnähe, die Sandy, Ricky und Amy, den drei Radiomacherinnen, entgegenkommt. Das Lied hat das Aufnahmeteam in jeder Session begleitet und ist auch in der Playlist des ersten Häfnradios zu finden. «Musik ist volles Ausdrucksmittel der Mädchen», erzählt der Sendungsverantwortliche Julian Ehrenreich vom Freien Radio B138 aus Kirchdorf an der Krems, «dazu wurde gelacht und geweint.»

Meine eigene Stimme.

Dass Musik sich auf unsere Gefühle und unser Verhalten auswirkt, ist wissenschaftlich belegt. Im besten Falle werden Glückshormone ausgeschüttet, es tritt ein beruhigender und stärkender Effekt ein. Gerade da, in der Stärkung von Selbstwert und Selbstbewusstsein, setzt das Projekt Häfn­radio auch an.
Sandy, Ricky und Amy sitzen seit mehreren Jahren im Maßnahmenvollzug (s. Infokasten) der Justizanstalt Asten in Oberösterreich. «Hier erleben sie sich als größtenteils fremdbestimmt», erzählt der Bereichsleiter Herwig Nosko, «das beginnt schon bei der von anderen festgelegten Zeit, wann sie aufzustehen haben.» Im Rahmen des Projekts finden die jungen Frauen zu einer Autonomie, die sie lange nicht mehr hatten oder gar erstmals erleben.
Das Projekt soll junge Menschen ermächtigen, ihre Stimme zu erheben und sich mit unterschiedlichen Themen auseinanderzusetzen. Über das Produzieren einer Radiosendung können Bildungsinhalte vermittelt werden, aber auch persönliche Kompetenzen werden gefördert. «Angefangen von gegenseitiger Rücksichtnahme bei der Arbeit im Team über das Festlegen von Sendungsinhalten bis hin zur Medienkompetenz ist alles dabei», sagt Sabine Kerschbaum von der Sozialen Initiative, die das Häfnradio konzeptioniert und koordiniert. Die Freude am Tun ermöglicht die Vermittlung von Wissen, ohne eine klassische Lernsituation, die nur allzu oft negativ besetzt ist, und erhöht damit die Bereitschaft für Bildung. «Die Idee entstand, weil die jungen Menschen in der Unterbringung neben den Therapien nur eingeschränkte Möglichkeiten haben, sich kreativ zu entfalten», so Kerschbaum. «Das bringt später Probleme, wenn sie sich etwa in Vorstellungsgesprächen präsentieren sollen.»
Reintegration als oberstes Ziel des Strafvollzugs kann in vielen Fällen nicht erreicht werden, das zeigt eine hohe Rückfallquote bei jungen Straftäter_innen. Negative Presse verstärkt zusätzlich die Stigmatisierung. Österreich hat jedoch nicht nur in dieser Hinsicht ein Problem: Die Quote der unter 18-Jährigen in Haft ist mit 1,6 Prozent eine der höchsten innerhalb der EU.

Von was ganz Normalem träumen.

Wer, ja wer soll außer dir die Karre aus dem Dreck ziehen? Das Häfnradio gibt den Frauen ein Gefühl für ihre Selbstwirksamkeit zurück und reicht ihnen Werkzeuge, die sie später brauchen, um ihr Leben draußen in die eigenen Hände zu nehmen. Pläne dafür werden intensiv geschmiedet. Ricky, sie hat eine diagnostizierte Borderline-Störung und lebt seit ihrem 15. Lebensjahr in Justizanstalten, geht das letzte Drittel des Maßnahmenvollzugs enthusiastisch an: «Ich möchte die Hauptschule abschließen, um später mal ganz normal zu arbeiten. Ein Haus, Kinder, einen Partner, irgendwann heiraten, aber das weiß ich noch nicht.»
Und ich glaub an dich, ganz egal, was war, was ist. Amy, sie bezeichnet sich selbst als Mad Amy, «weil ich so einen Vogel hab», hat früher schwierige Pferde zu Therapiepferden trainiert. Von der richtigen Dosierung von Macht hat sie also sicher Ahnung. Das ist auch eine der riesigen Herausforderungen im System Justiz an sich und ein Pluspunkt im Projekt Häfnradio, wo gewohnte Hierarchieebnen entfallen, wenn Sozialarbeiter_innen, Psycholog_innen oder der Bereichsleiter für die Sendung interviewt werden. «Es war berührend, weil eine neue Ebene der Augenhöhe entstanden ist», erzählt Herwig Nosko. Und vielleicht gab es sogar einen kurzen Moment der Umkehr, als er von einer der Sendungsmacherinnen aus vollem Herzen gelobt wurde: «Das haben Sie toll gemacht!»
But I still dream ’bout the good old days / When we took care of each other. Sandy ist die hingebungsvolle Live-Sängerin und Katzenliebhaberin des Häfnradios, sie erzählt von ihren Hobbys und Wünschen, etwa nicht rückfällig zu werden und Kontakt zu ihren Eltern zu haben. Sandy ist es auch, die den Zuhörer_innen vieles über den Haftalltag näherbringt. Wem war vorher schon klar, wie ein Einkauf im Häfen funktioniert, wie Besuche ablaufen oder wann die Haftraumtüren verschlossen bleiben?

Weitermachen.

Fest steht mittlerweile, dass das Pilotprojekt fortgesetzt werden soll, nicht zuletzt deshalb, weil sich die ersten drei Teilnehmerinnen «voll auf das Experiment eingelassen haben», freut sich Sabine Kerschbaum. Vom Radiomacher Julian Ehrenreich haben die jungen Frauen als Mitarbeiterinnen T-Shirts des Senders bekommen und eine CD mit ihrem Erstlingswerk – Internetradio oder Podcasthören ist im Häfen ja ein No-Go. «Der nächste Schritt wäre eine Exkursion zum Sender.»
Von Seiten der Justizanstalt Asten wird überlegt, das Häfnradio als Modul im Maßnahmenvollzug einzuführen. Geplant sind aber auch Workshops in den Haftanstalten in Wien und Niederösterreich, etwa in der Frauenjustizanstalt Schwarzau. Voraussetzung dafür ist die Finanzierung. «Wir sind noch intensiv auf Geldsuche», so Sabine Kerschbaum, «denn leider fällt der Häfn bei den meisten Förderungen durch.»
Am Engagement der Beteiligten wird es jedenfalls nicht scheitern. Der Enthusiasmus für das Projekt bei allen – von der Justizanstalt über die Coaches, das Radio, bis hin zu den drei Erststarterinnen – ist auffallend. Das wird die Zeit meines Lebens, und niemand ist mehr dagegen. Das bleibt Sandy, Ricky und Amy jedenfalls zu wünschen!

 

Was ist Maßnahmenvollzug?
Maßnahmenvollzug bezeichnet in Österreich vorbeugende, freiheitsentziehende Maßnahmen zur Unterbringung von Täter_innen mit psychischer Erkrankung oder intellektueller Beeinträchtigung, denen zum Zeitpunkt der Tat (die mit einer Freiheitsstrafe von mehr als einem Jahr bedroht sein muss) die Zurechnungsfähigkeit gefehlt hat.
Ende 2020 waren österreichweit rund 1.350 Menschen im Maßnahmenvollzug, das entspricht in etwa jeder sechsten inhaftierten Person. Rund zehn Prozent davon sind Frauen. Ein kleiner Teil der Personen befindet sich in Drogenentzugstherapien, der Rest hat psychiatrische Diagnosen.
In Augustin 532 berichten wir über die Zeit nach der Entlassung aus dem Maßnahmenvollzug.

 

Häfnradio
Radiopremiere: 8. Juli, 15.07 Uhr auf Radio B138, dem Freien Radio aus Kirchdorf/Krems
Livestream: www.radiob138.at/index.php/hoeren/livestream
Podcast: https://cba.fro.at/podcast/haefnradio

Playlist aus dem Häfen:
Rosenstolz – Lass es Liebe sein
Dame – So wie du bist
Lemo – Schwarze Wolken
Wanda – Jurassic Park
KC Rebell & RAF Camorra – Neptun
OneRepublic – Rescue Me
Pizzera & Jaus – Wer, wenn net du
Pizzera & Jaus – Liebe zum Mitnehmen
Vitamin String Quartet Performs Coldplay – Clocks
Glasperlenspiel – Geiles Leben
Fiva – Auf Mich
The Doors – Riders on the Storm
Parov Stelar – Cat Groove
Rolling Stones – Harlem Shuffle
Johnny Cash – Folsom Prison Blues
Juju und Bausa – 2012
Alpha Blondy – Wish you were here

Mehr übers Häfnradio:
we need you Jugendcoaching, www.weneedyou.at
Soziale Initiative, www.soziale-initiative.at/projekte