Literatur und Leben der 1968er
Vor 50 Jahren standen in Frankfurt zwei Kaufhäuser in Flammen. Der Auftakt zum organisierten deutschen Linksterrorismus bildete auch den Auslöser für einen der bemerkenswertesten 68er-Romane: Die Reise. Helmut Neundlinger über den Autor Bernward Vesper, seine Lebensgefährtin Gudrun Ensslin und das Privat-Politische der Nachkriegsgeneration.
«Sehr geehrte Herren, ich stelle Ihnen meinen Körper zur Verfügung», schreibt ein Mann namens Bernward Vesper gegen Ende des Jahres 1970 an das Anatomische Institut der Goethe-Universität in Frankfurt. «Ich tue das aus der Überzeugung, dass man die verbreitete Unsitte beenden muss, einen menschlichen Körper, der das Produkt eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses ist, ohne weiteres privat einlochen zu lassen.»
Der Autor der Zeilen ist zu diesem Zeitpunkt 32 Jahre alt und unterwegs auf einem «Trip», der ihn nur wenige Monate später endgültig aus dem Leben reißen wird. Bleiben wird von ihm nicht nur das anatomische Vermächtnis, sondern auch eine «schonungslos offene und doch verschlüsselte Autobiographie», wie der Historiker Gerd Koenen jenen Text beschreibt, der sechs Jahre nach dem Tod des Autors unter dem Titel Die Reise erstmals erscheint. Im Sommer 1969 hatte Vesper mit der Niederschrift des Manuskripts begonnen, das erst posthum Karriere machen wird: als vielgerühmtes «Vermächtnis der 68er-Generation» sowie als Grundlage zweier Kinofilme (Die Reise, 1986, bzw. Wer wenn nicht wir, 2011).
Trips und Politik.
Die zuweilen kultische Rezeption des Werkes gründet nicht nur auf seine ungewöhnliche Form, die tief in die Kindheit reichende Erinnerungsskizzen mit politischen Essays sowie ausgedehnten LSD-Tripprotokollen verknüpft. Bernward Vesper war zugleich Rand- und Zentralfigur innerhalb der militanten Linken im Deutschland der späten 1960er-Jahre. Er entstammte überdies einem rechtsnationalen Milieu, dessen Konstitution bis in die Zwischenkriegszeit zurückreicht. In seiner Biographie verknüpfen sich Kontinuitäten und Brüche der deutschen Zeitgeschichte, die in dem Roman einen abgründig pulsierenden Widerhall finden. Dieser zeichnet in gewisser Weise auch eine Reise von ganz rechts nach ganz links nach, die bei weitem nicht so eindeutig verlief, wie es Vesper selbst in den aktionistischen Strudeln 1968 empfunden haben mag. Im Frühling des Jahres, das später zur zeitgeschichtlichen Chiffre der Nachkriegsepoche werden sollte, standen die Zeichen weltweit auf Umbruch. In den USA hatte sich eine breite Protestfront gegen den Krieg in Vietnam gebildet. In Südamerika organisierten sich bewaffnete Aufstände gegen Militärdiktaturen. Frankreich erlebte einen historischen Ausnahmezustand, und auch jenseits des Eisernen Vorhangs begann sich vor allem in der ČSSR Widerstand gegen das bleierne sozialistische Regime zu formieren.
Wanderjahre und Irrfahrten.
Die westdeutsche Jugend hatte sich aufgrund des brutalen Vorgehens der Polizei beim Staatsbesuch des verhassten Schahs von Persien in Berlin sowie der Erschießung des Demonstrationsteilnehmers Benno Ohnesorg durch den Polizisten Karl-Heinz Kurras am 2. Juni 1967 in kurzer Zeit radikalisiert. Als in der Nacht vom 2. auf den 3. April 1968 ein Brandanschlag auf zwei Frankfurter Kaufhäuser verübt wurde, markierte das nicht nur die Geburtsstunde organisierter linksterroristischer Aktivitäten, sondern auch eine endgültige Zäsur in Vespers bisherigem Leben.
Eine der damals festgenommenen Verursacherinnen des Anschlags ist Gudrun Ensslin, bis vor wenigen Monaten noch Vespers Lebensgefährtin und Mutter des gemeinsamen Sohnes Felix, der 1967 auf die Welt gekommen war. Im allgemeinen Aufruhr waren sich die beiden als Paar abhanden gekommen – auch weil Ensslin einen Mann kennen gelernt hatte: Andreas Baader, der in allen Facetten das Gegenteil von Vesper verkörperte: hier der gangsterhaft auftretende Desperado, der Fleisch gewordene Aktionist, der im Umfeld der Berliner Kommune 1 einen idealen Resonanzkörper für seine Verwegenheits-Attitüde gefunden hatte; dort der ewig um sich kreisende, fahrige und zu ausufernden Monologen neigende Möchtegern-Autor. Zwischen diesen Antipoden entpuppte sich die begabte Literatur-Studentin Gudrun Ensslin als eine Art Heilige der Tat: In ihrer Verteidigung vor Gericht führte sie aus, dass «reden ohne Handeln Unrecht ist». Gegen den Krieg der USA in Vietnam wollte sie ein Zeichen setzen, und wohl auch gegen die Notstandsgesetze, die schließlich Ende Mai 1968 von der Großen Koalition verabschiedet wurden, um den staatlichen Organen eine Handhabe im Krisenfall zu geben.
Der 2009 veröffentlichte Briefwechsel, den Vesper und Ensslin während ihrer Haft unterhielten, dokumentiert nicht nur die Nachwehen der für Vesper inakzeptablen Trennung und die Auseinandersetzung um die Zukunft des Sohnes (der schließlich bei Freunden der Familie Ensslin in Pflege gegeben wird), sondern auch die Aufladung privater Angelegenheiten und Konstellationen mit einer sich radikalisierenden politischen Sprache. Während Ensslin ihre Haft mit dem Studium theoretischer Literatur von Rosa Luxemburg, Jean Paul Sartre oder Herbert Marcuse ausfüllt, taumelt Vesper von einem verlegerischen Desaster ins nächste. In seiner Edition Voltaire produziert er zwar zeitgemäßen Lesestoff zwischen Theorie und Agit-Prop, scheitert aber nicht zuletzt an seiner wachsenden inneren wie äußeren Haltlosigkeit. Ausgerechnet ein einschneidendes LSD-Triperlebnis löst in ihm schließlich einen Schreibprozess aus, der ihm über die noch verbleibenden beiden Lebensjahre einen Rest von Stabilität verleihen wird.
Mit dem Begriff der «Reise» schließt Vesper einerseits an die Geschichte des europäischen Romans an: Der Entwicklungs- und Bildungsroman klingt darin ebenso an wie das Thema der Wanderjahre und Irrfahrten tragischer Helden, die nach unzähligen Prüfungen schließlich geläutert heimkehren. Andererseits eröffnet die Assoziation mit dem «Trip» Bezüge zur zeitgenössischen Literatur der Beat-Generation und des gerade erst entstehenden Undergrounds. Die Reise lässt sich als eines der wichtigsten Vater-Bücher der neueren deutschen Literaturgeschichte bezeichnen.
Bis in die letzten Seiten des Manuskripts hinein wirkt der lange Schatten des Vaters nach – des Schriftstellers Will Vesper (1882–1962), der seine Autorenkarriere im Umfeld der Schwabinger Bohème der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg begonnen hatte. Ab Mitte der 1920er-Jahre betätigte er sich als Herausgeber der Zeitschrift Die schöne Literatur, die später unter dem Titel Die neue Literatur zu einem führenden Organ der NS-Literatur wurde. Seit 1931 Parteimitglied der NSDAP, hielt er die Festrede anlässlich der Bücherverbrennung am 10. Mai 1933 in Dresden. Seine in den folgenden Jahren verfassten antisemitischen Ausfälle gegen ins Exil vertriebene Schriftsteller und Verleger sind ausführlich dokumentiert.
Nach dem Ende der Naziherrschaft im Mai 1945 entwickelte sich ein zwiespältiger Umgang mit Vespers Werk und Person: Während seine Bücher in der sowjetischen Besatzungszone und in Österreich verboten waren, konnte er in Westdeutschland auf seine guten Kontakte zählen und erhielt ein Engagement als Lektor im Bertelsmann Verlag. In alten Mitstreitern aus der Zwischenkriegszeit fand Vesper ein Auffangbecken. Rund um den Autor Hans Grimm, dessen Romantitel Volk ohne Raum (1926) zum Schlachtruf nationalistischer Expansionspolitik geworden war, war ein rechtsnational-ideologischer Flügel entstanden, in dem sich jene Geister versammelten, denen die NS-Bewegung zu plebejisch und zu modern war. Grimm organisierte ab 1934 sogenannte «Dichtertage» mit Lesungen und Orchestermusik. Diese sich der NS-Kulturbürokratie weitgehend entziehende Veranstaltung erhielt bald enormen Zustrom von tausenden begeisterten Zuhörern. Dem Ruf nach Lippoldsberg folgte Will Vesper allerdings erst nach dem Krieg, als er sich seinen persönlichen Entnazifizierungsmythos zusammenzubasteln begann.
Links, Rechts, Kärnten.
Sohn Bernward besuchte die «Dichtertage» an der Seite des Vaters zum ersten Mal 1953 und in der Folge noch drei weitere Male. Dort fand er sich inmitten einer rechten «Jugendprotestszene eigener Art, die ihre aparten Märtyrerkulte pflege», wie Gerd Koenen schreibt. Anders als die autobiographischen Passagen der Reise nahelegen, identifizierte sich Bernward bis ins junge Erwachsenenalter mit dem weltanschaulichen Milieu seines Vaters. Auch Gudrun Ensslin wurde in den anhaltenden Vaterkult miteinbezogen. Bernward Vesper und Ensslin hatten sich 1962 an der Uni Tübingen kennen gelernt und waren nicht nur ein Liebes-, sondern auch ein Herausgeberpaar geworden. Im Nachlass findet sich eine von Ensslin versandte Ankündigung des ersten Bandes einer umfassenden Will-Vesper-Werkausgabe vom September 1963, in dem verkündet wird, dass «der mutige junge Verlag Dr. Bertl Petrei, Maria-Rain/Kärnten» die Sammlung der Novellen unter dem Titel Liebe, Traum und Tod rechtzeitig zur Frankfurter Buchmesse vorgelegt habe. Während Vesper und Ensslin mit ihrem parallel betriebenen studio für neue literatur wenig später eine Anthologie mit Texten gegen die Atombombe publizierten, die auch eine Reihe namhafter DDR-Schriftsteller wie Anna Seghers oder Arnold Zweig umfasste, firmierten die beiden auch als «Pressestelle für das Ausland» des Dr. Bertl Petrei Verlags. Die spätere Linksterroristin Ensslin gab also für kurze Zeit zugleich die «Vertreterin ihres avantgardistischen Literaturverlags und die Pressesprecherin eines Kärntner Verlags mit deutschvölkischer Orientierung» (G. Koenen).
Bertl Petrei (1919–2004) war zur NS-Zeit in der HJ-Pressestelle in Klagenfurt tätig gewesen und hatte nach Rückkehr aus englischer Kriegsgefangenschaft und einem Studium der Publizistik eine journalistische Karriere beim ORF eingeschlagen, die ihn 1970 immerhin zum Intendanten des Landesstudios Burgenland aufsteigen ließ. Als Autor vertreten war er schließlich auch im berüchtigten, 1989 publizierten Grenzlandjahrbuch der Kärntner FPÖ unter Jörg Haider.
Die Reise seines Lebens endete für Vesper im Mai 1971: Nachdem ihn der kontinuierliche Drogenkonsum in eine manifeste Psychose getrieben hatte, nahm er sich in der psychiatrischen Anstalt Hamburg-Eppendorf mit einer Überdosis Schlaftabletten das Leben. Sein Körper wurde, wie er es schriftlich verfügt hatte, an das Anatomische Institut in Frankfurt überstellt.
Gudrun Ensslin nahm sich im Oktober 1977 im Hochsicherheitsgefängnis Stammheim gemeinsam mit Andreas Baader das Leben. Die von ihnen mitbegründete Rote Armee Fraktion löste sich erst im Jahr 1998 mittels eines anonymen Schreibens auf, das ein bemerkenswertes Fazit über drei Jahrzehnte mit dutzenden Anschlägen, Banküberfällen, Entführungen und insgesamt mehr als 50 Toten enthielt: «Das Ergebnis kritisiert uns.»
Bernward Vesper:
Die Reise
rororo, 2012
707 Seiten, 13,40 Euro