Herr Groll auf Reisen, 413. Folge
An einem strahlenden Frühlingstag erkundeten Herr Groll und sein Freund, der Dozent, in der Nähe von Leopoldsdorf die Dürresituation. Die Gemüsefelder auf beiden Seiten des Rußbaches waren oberflächlich grün, zwischen den Pflanzen aber zeigten sich tiefe Risse in der grauen Erde. Das Marschtempo der beiden war hoch, die Bewegung sollte Wärme liefern, denn die Luft war frisch. Der Dozent äußerte Zweifel über den Sinn der Erkundung, außerdem fand er den Treppelweg neben dem zu einem Kanal regulierten Rußbach langweilig.
«Wie Sie wissen, folge ich immer den Wasserläufen», erwiderte daraufhin Herr Groll. «Dass der Rußbach von den Wasserbauingenieuren zu einem öden Rinnsal degradiert wurde, ist nicht seine Schuld, auch ein behinderter Wasserlauf hat das Recht auf Zuwendung.»
Mit einem schwachen Kopfschütteln fand der Dozent sich mit der Antwort ab und wollte dann wissen, welche Funktion der Rußbach im Gewässermanagement des Marchfeldkanals innehabe und wo er versickere.
«Der Rußbach versickert nicht, er sorgt für die Erhöhung des Grundwasserspiegels im ganzen nördlichen Marchfeld» erwiderte Groll. «Nur wenige Großstädte verfügen unmittelbar vor der Haustür über ein derart ausgedehntes Anbaugebiet von Gemüse aller Art. Der Rußbach mündet dreißig Kilometer von hier auf der Höhe der Ruine Röthelstein unterhalb von Hainburg in die Donau. Bei seiner Mündung ist er aber kein Bach mehr, sondern ein kräftiger Fluss mit hoher Strömung. In den Bergen würde man Ache dazu sagen.»
«Wenn ich mich recht erinnere, wurde bei der Errichtung des Marchfeldkanals nahe Deutsch-Wagram ein künstlicher Teich geschaffen, auch er ist Teil des Gewässersystems», merkte der Dozent an.
«Und zwei Rinnsale, der Rußbach und der Stempfelbach, und der Teich sollten das Marchfeld mit Wasser versorgen, und wie Sie an den hundert Meter breiten mobilen Wassersprengern sehen, die wie vorsintflutliche Ungeheuer über die Felder kriechen, geht das Konzept der Kanalingenieure auf; seit dreißig Jahren sind die Zeiten verdorrter Felder im Marchfeld vorbei. Wenn auch die gegenwärtige Lage Anlass zur Sorge gibt. Andere Gegenden in Österreich sind noch viel schlechter dran», erwiderte Groll und fuhr fort:
«Die Pläne für den Kanal datieren bis ins Jahr 1850 zurück. Wassermangel war also bereits damals ein Problem. Um die Jahrhundertwende und noch in den 30er und 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts zeugen Fotografien von wüstengleichen Landstrichen im Marchfeld. Es gab sogar Wanderdünen, die die Höhe der Volksschule in Leopoldsdorf erreichten. Reste existieren heute noch, sie sind streng geschützt und bieten allerlei Getier Unterschlupf. 1985 gab es im Einzugsgebiet 5.000 Brunnen, die den Grundwasserspiegel durch exzessive Bewässerung immer mehr sinken ließen, in manchen Jahren bis zu einem halben Meter. Nach acht Jahren Bauzeit wurde der Marchfeldkanal 1992 schließlich in Betrieb genommen. Kaum bekannt ist der Umstand, dass die Planung des Kanals nicht nur nach ökologischen, sondern auch nach militärischen Vorgaben erfolgte. So sind in den zahlreichen Brückenfundamenten eiserne Ringe eingelassen, an denen im Ernstfall Ketten mit Panzersperren befestigt werden können. Und die Uferböschungen wurden zur Abwehr feindlicher Panzer so angelegt, dass eine Seite einen steilen, die andere jedoch einen flachen Anstieg hat, wodurch die Kanonenrohre der angreifenden Panzer in der Böschung steckenbleiben sollten.»
«Mit Verlaub, das klingt, als wären die Pläne beim Heurigen ausgeheckt worden», warf der Dozent ein.»
«Kein schlechter Ort für wasserbautechnische Neuerungen», gab Groll zurück.
Pferdegetrappel ließ die beiden rasch zur Seite treten. Vier edle Rösser trabten stolz an ihnen vorbei, zwei Reiter und zwei Reiterinnen. Die letzte Reiterin zog den Hut zum Dank.
«Wer war das?», fragte der Dozent verdattert.
«Es gibt hier in der Gegend etliche Reitställe, das Marchfeld ist bekannt dafür. Die Tiere müssen bewegt werden.»
Er glaube eher, dass es sich um die vier apokalyptischen Reiter gehandelt habe, sagte der Dozent. Er schüttelte sich, als kämpfte er gegen einen Fieberschauer.
«Reiter eins steht für die Seuche, die Pandemie. Reiter zwei für den Krieg im Osten. Reiter drei für die Dürre …» Er stockte.
«Und der vierte?», fragte Groll.
«Gebe Gott, dass wir das nie erfahren müssen», sagte der Dozent.