«Renato mio!»vorstadt

Maria Zimmermann über unzerstörbare Zeitzeugen - die Wiener Flaktürme

«Renato mio», steht in italienischer Sprache auf der Postkarte vom 31. Dezember 1943, «nach all den Tränen und Wehklagen hat mich heute endlich die Nachricht erreicht, dass Du bei guter Gesundheit bist – so wie auch ich und unser Ivan.Renato, am 26. Oktober ist unser Kind zur Welt gekommen. Alles gut gegangen. Grüße und Küsse senden Dir Deine Frau und unser Ivan.» Mehr Platz ist nicht auf der Antwortkarte der Kriegsgefangenenpost, wo es kleingedruckt, aber umso strenger heißt: «Deutlich auf die Zeilen schreiben!» Die junge Frau aus einer Kleinstadt in der Emilia Romagna hält sich penibel an die Vorgaben, als sie fast vier Monate nach seiner Gefangennahme endlich ein Lebenszeichen ihres Mannes erhält – aus Wien.

Es ist purer Zufall, als ein Bauarbeiter fast 70 Jahre später diese Postkarte aus einem Haufen von Bauschutt und Taubenkot zieht, anstatt sie auf den Müll zu kippen. Völlig verdreckt, geknickt, vielleicht auch schon vor Kriegsende durch das oftmalige Lesen abgegriffen, aber immer noch gut lesbar, lag die Karte genau an dem Ort, an dem Renato Bondi als NS-Zwangsarbeiter eingesetzt war: Im größeren der beiden Flaktürme im Wiener Augarten, der jüngst vom Schutt gereinigt wurde. Die Türme sind zwei von insgesamt sechs Flaktürmen, die bis heute das Stadtbild Wiens prägen: in der barocken Gartenanlage im 2. Bezirk, im Arenbergpark im 3. Bezirk, im 6. Bezirk, wo das «Haus des Meeres» in einem der Türme beheimatet ist, und hinter dem Museumsquartier im 7. Bezirk auf dem Areal der Stiftskaserne. Drei monströse Stahlbeton-Paare: je ein Gefechtsturm und ein etwa 300 Meter entfernter Leitturm.

«Zweifel über den strategischen Nutzen»

Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene aus ganz Europa mussten unter härtesten, teils lebensbedrohlichen Bedingungen die bis zu 55 Meter hohen Bunkerbauten errichten. Einer dieser Zwangsarbeiter war Renato Bondi, der am 8. September 1943, unmittelbar nach dem Waffenstillstands-Abkommen zwischen Italien und den Alliierten, in einer Kaserne in Trient von deutschen Truppen verhaftet und als Kriegsgefangener ins Dritte Reich deportiert wurde. Von da an sahen alle Tage gleich für ihn aus: langer Fußmarsch vom Gefangenenlager in Wien-Nussdorf in den Augarten, harte Arbeit, Rückmarsch mit Hunger und Erschöpfung als ständigen Begleitern. Offiziell dienten die zwischen Dezember 1942 und Januar 1945 errichteten Riesen zwar zur Luftabwehr und als Luftschutzbunker für die Wiener Bevölkerung. Inoffiziell sind den Nazis aber schon früh Zweifel über den strategischen Nutzen der Flaktürme gekommen, wie Dokumente vom Dezember 1941 belegen. Gebaut wurde trotzdem. Wäre es nach den Planern gegangen, hätten die Türme nach Kriegsende zu gigantischen Denkmälern umgestaltet werden sollen. Warum die Wiener Flakturmzwillinge nach Kriegsende nicht gesprengt wurden wie fast alle ihrer Pendants in Berlin und Hamburg? Eine Erklärung lautet, dass ihre Sprengung auf dicht bebautem Stadtgebiet umliegende Wohnhäuser massiv beschädigt hätte. Eine andere lautet, dass man in Österreich die Auflage der Alliierten nach Kriegsende, «alle Spuren des Nationalsozialismus zu beseitigen», nicht ganz so streng auslegte. Lange hielt sich so der Mythos der Unzerstörbarkeit der Türme. Heute könnte man die Nazi-Relikte abtragen, doch daran denkt keiner mehr.

Wien-Besucher_innen, die nach einer Erklärung suchen, worum es sich bei den Türmen eigentlich handelt, werden dennoch enttäuscht. Eine ernstzunehmende Kommentierung, was das für Bauten sind, unter welchen Bedingungen und von wem sie erbaut wurden, gibt es bis heute nicht. Wer das Innere besichtigen möchte, hat ebenfalls kein Glück. Keiner der Türme kann besichtigt werden. Ausnahme ist das völlig umgebaute «Haus des Meeres». Am spannendsten ist wohl das Innenleben des Leitturms im Arenbergpark im 3. Bezirk: Er kam als einziger Flakturm weitgehend unbeschadet ins 21. Jahrhundert. Selbst die Aufschrift «Wehrmacht» ist über einem der Eingänge noch erkennbar, wenn der wilde Wein im Herbst seine Blätter lässt. Im Inneren sind die mit Phosphor an die Wand geschriebenen Aufforderungen «Rasch weitergehen!» oder «Mutter und Kind» stille Zeugen für das Chaos, das bei Bombenalarm herrschte.

Unter der Staubschicht von sechs Jahrzehnten fanden sich zudem zahlreiche Fundstücke – Utensilien der «kriegswichtigen Betriebe», die in den Türmen untergebracht waren, Überbleibsel aus dem Lazarett, Dokumente. Einzigartig sind aber vor allem die Graffiti an den Wänden, die die Mitglieder des Interdisziplinären Forschungszentrums für Architektur und Geschichte rund um die Wiener Architekturhistorikerin Ute Bauer entdeckten: Zwangsarbeiter aus Frankreich, Italien, Russland oder dem damaligen Jugoslawien haben sich hier verewigt, haben an den Wänden Botschaften hinterlassen – von verzweifelt bis kämpferisch. «Laval au Poteau» steht da etwa auf der kahlen Wand, also «Laval an den Galgen», ein Kampfspruch der französischen Résistance. Andernorts heißt es: «Vive la France». Das mit Kreide geschriebene «Milano e poi morire» («Mailand und dann sterben») ein paar Stockwerke weiter oben drückt wiederum das Heimweh eines italienischen Zwangsarbeiters aus.

«Wirtschaftlichkeit schlägt Gedenken»

Es gibt die Idee, diesen Turm mit all seinen Graffiti und Fundstücken zu einem begehbaren Mahnmal zu machen. Doch Wirtschaftlichkeit schlägt Gedenken: 2011 wurde der Turm, der wie alle Flaktürme mit Ausnahme des «Haus des Meeres» unter Denkmalschutz steht, von der Stadt an eine Datenfirma vermietet. Was mit all den Funden geschieht, ist unklar. Klar dagegen ist, dass an die Zwangsarbeiter weder ein Gedenktag noch ein Denkmal erinnert und die Baracken der mehr als 170 Zwangsarbeiterlager in Wien alle nach dem Krieg abgetragen wurden. Es sind somit jene Graffiti oder Fundstücke wie die Postkarte von Irene Bondi, die Zeugnis ablegen von den Schicksalen der Zwangsarbeiter.

Renato Bondi hat den Krieg übrigens überlebt. Unmittelbar nach der Befreiung Wiens kehrte er in seine Heimatstadt zurück, wo er seinen mittlerweile eineinhalb Jahre alten Sohn zum ersten Mal in die Arme schließen konnte.

Maria Zimmermann, 1975 in Hall in Tirol geboren, ist Redakteurin in der Wien-Redaktion der «Salzburger Nachrichten». Sie hat unter anderem Geschichte studiert und lebt mit ihrem Mann und ihrem Sohn in Wien.

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