Geht es jetzt den Tschocherln an den Kragen?
Behördliche Auflagen sind für kleine Gastrobetriebe immer schwerer zu stemmen, wie am Beispiel Café Industrie, das Ende Mai Geschichte sein wird, zu sehen ist. Mario Lang (Fotos) und Reinhold Schachner (Text) besuchten ein letztes Mal das kleine Gürtelcafé mit dem sonderbaren Namen.
Von wegen Café Industrie! Temporär wäre Café Journalismus treffender gewesen, denn bald nach Bekanntwerden, dass das Gürtelcafé nach 103 Jahren schließen wird, sind dort binnen weniger Tage mehr Medienvertreter_innen gesichtet worden als in den fünf Jahren zuvor. Genauer: von Jänner 2012 an gerechnet, als es dort den letzten großen Relaunch gegeben hat.
Warum ist es sogar Tageszeitungen in den Bundesländern eine Meldung wert, wenn ein verrauchtes Tschocherl am Gürtel seine Pforten schließt? Das Café Industrie sei eine «Wiener Institution» oder ein «Traditionsbetrieb», wurde geschrieben, doch jede Wette, niemand wäre auf die Idee gekommen, diese «Wiener Institution» ausländischen Gästen (von innen) zu zeigen. Arthur Fürnhammer, Autor des zweibändigen «Tschocherl-Report» (Wien, Löcker-Verlag), würde das Café Industrie nicht widerspruchsfrei als Tschocherl durchgehen lassen, dafür sei die Speisekarte zu umfangreich und das Platzangebot zu groß. Aber «Wiener Institution» noch weniger, «dieser Begriff ist beschönigend», so der Experte.
Tschocherl hin oder her, der Name «Café Industrie» ist einprägsam skurril, ein rurales Pendant, ein «Café Agrarindustrie», müsste wohl erst eröffnet werden, und es liegt an einem hoch frequentierten Ort, am Margaretengürtel, Ecke Arbeitergasse. Dann gab es auch noch einen nicht ganz unbekannten Stammgast, der immer «hinten mit Zettel und Bleistift bewaffnet» gesessen ist, wie es Ruth Binder ausdrückt. Sie sei auch nicht ganz unschuldig daran gewesen, erzählt sie offen, dass ihr Ecklokal als Ernst Hinterbergers Stammcafé bekannt geworden ist. Rund ein halbes Jahr nach dem Tod des Autors habe sie zu seinen Ehren einen Abend veranstaltet, werbewirksam, immerhin wollte sie aus dem «besseren Branntweiner» ein Kulturcafé machen. Diese Rechnung ging aber nur relativ kurz auf, jetzt sitzt Ruth Binder auf einem hohen Schuldenberg und hätte ihren Worten zufolge eigentlich schon vor einem Jahr zusperren sollen.
Ohne Musi kein Geld
Für Kultur ist selbst in einem kleinen Café eine Betriebsanlagengenehmigung vorgeschrieben. Verstöße kosteten Ruth Binder gleich einmal rund 2500 Euro. Schallschutzvorrichtungen sind aus finanziellen Gründen sowieso kein Thema gewesen. Somit blieb nur noch, den Kulturbetrieb einzustellen, doch ohne Kultur blieben zu viele Gäste aus, die Umsatzeinbrüche wollten sich auch mit neuem Fokus aufs Tagesgeschäft nicht kompensieren lassen. Davon abgesehen läppern sich ausgabenseitig Peanuts zu einer erwähnenswerten Summe zusammen: «Man muss Kurse zu Erster Hilfe, Allergenen und Hygiene auf eigene Kosten absolvieren. Erst recht die ganzen technischen Befunde und die Registrierkassa.» Einstiegsmodelle wären zwar ab 500 Euro erhältlich – es geht hier ganz banal um die Anschaffungskosten, und nicht um die Abgabenvermeidung – nur bräuchten diese Geräte bald ein kostenpflichtiges Software-Update. «Einen Tausender muss man erst mal verdienen», lautet dazu der ernüchternde Kommentar von Ruth Binder, die hinzufügt: «Kluge Köpfe alleine sind zu wenig, man braucht auch Praktiker zum Ausarbeiten der Gesetze!» – um schließlich von einer Metaebene aus die alles entscheidende Frage zu stellen: «Welche wirtschaftliche Logik steckt dahinter, die Kleinen umzubringen?» Zur Methode kann die Wirtin auch etwas sagen: «In den ersten drei Jahren bin ich zirka acht Mal kontrolliert worden, angefangen von der Krankenkassa übers Finanzamt bis hin zum Marktamt, dann war mal Ruhe, bis zum Jänner vergangenen Jahres.»
Ob von der Wirtschaftskammer Unterstützung gekommen wäre? «Jein.» Sie habe sich natürlich beraten lassen und bekam zu hören, dass sich der nötige Umbau niemals rechnen würde. Dazu eine These: Eröffnet oder übernimmt man heutzutage ein Lokal, dann muss man entweder zu viel Geld haben oder viel Risikobereitschaft mitbringen. Ruth Binder stimmt prinzipiell zu, in ihrem Fall hätten emotionale Gründe stark mitgeschwungen, sie wollte Nachfolgerin ihrer Mutter werden, das Lokal sei für sie zu einer Art «Familienangelegenheit» geworden, somit erklärt sich auch ihre Risikobereitschaft.
Ihre Mutter führte zunächst in Kritzendorf ein Gasthaus, bevor sie nach Wien gegangen ist und im Industrie zu kellnern begann. Nach dem Ableben der damaligen Chefin übernahm Mutter Binder das Industrie und bewirtschaftete es über dreißig Jahre lang bis zu ihrem Tod. Im Jänner 2012 ist Tochter Ruth angetreten, um die Trankler_innen, die sich zu ihrer Mutters Zeiten breitgemacht haben, hinauszukomplimentieren und im Gegenzug Literat_innen und Musiker_innen einzuladen. Mit der Transformation zum Kulturcafé fingen die Probleme aber erst so richtig an. Lärmbeschwerden folgten umgehend, selbst bei einem unplugged gespielten Gitarrenkonzert. Eigenartigerweise, wie Ruth Binder meint, kamen die Beschwerden nur von einer Familie, die aufgeteilt in einem höher gelegenen Stockwerk wohnt. Mittlerweile mutmaßt die Wirtin, dass es sich nicht um «typisches Querulantentum, das es in jedem Haus gibt» handelt, vielmehr dürfte Kalkül dahinterstecken: der Lärm als Vorwand, um sie loszuwerden, da es hintergründig um die potenzielle Geschäftsfläche gehe. Man darf gespannt sein, wer oder was ins Ex-Industrie einziehen wird.
Schwedisches Intermezzo
1914 wurde das Café Industrie eröffnet, damals noch am Rande eines Industriegebiets, daher wohl auch der Name. Trotzdem ist die Fabrik im Wandbild im Lokal linker Hand mehr Phantasiegebäude als historisch verbürgt, und ein Intermezzo zweier Schwedinnen machte aus dem Gürtelcafé vorübergehend ein «Café Stockholm». Ende Mai wird die knapp über einhundertjährige Ära des Café Industrie zu Ende gehen. Ruth Binder ist den Medienvertreter_innen und den Neugierigen nicht gram, weil sie sich erst jetzt, zum Abgesang, ins kleine Lokal quetschen. Im Gegenteil, sie nehme sich gerne für Journalisten und Journalistinnen Zeit, damit die Bevölkerung erfahre, dass es kleinen Betrieben, nicht nur in der Gastronomie, immer schwerer gemacht werde, zu überleben.
Dabei hatte Harald Pesata seine Reportage übers Café Industrie, die im Jahr 2013 im Augustin (Nr. 345) veröffentlicht wurde, mit zukunftsorientierten Sätzen eingeleitet: «Wenn sich ein kleines Gürtelcafé durch das persönliche Engagement seiner neuen, ambitionierten Chefin selbst bei den Haaren packt und sich auf diese Art aus dem Sumpf zieht, ist das keine große Sache für die breite Öffentlichkeit. Es ist aber sehr wohl von Bedeutung für die Menschen, die dort arbeiten, und für die Menschen, die dort ihr zweites Zuhause gefunden haben.»
Abschlussfest mit
blues-lastiger Session
27. Mai, 20 Uhr
5., Margaretengürtel 120
www.cafe-industrie.at