Ein Text von Joseph Roth vom Sommer 1923
Am Ufer der Alten Donau, jenseits der Reichsbrücke, halten die unbemittelten Menschen ihren Rivierasommer ab. Ihr bescheidener Blick ignoriert das andere Ufer des Flusses und ruht auf den nächstplätschernden Wellen. Wenn man das phantasiebegabte Auge ein wenig zusammenkneift und die Geographie vergißt, kann man den ewigen Wogenschlag des Meeres beobachten. Manchmal kommt unserer Illusion ein Dampfer zu Hilfe und den Fluß hinunter, mit rauchendem Schlot und abenteuerlichem Mast und winkenden Insassen. Gewiß fahren sie jetzund hinaus in die See, die Kontinent mit Kontinent verbindet.
Man darf nur keine übermäßigen Forderungen an die Rivieragäste stellen. Im Badeanzug sind alle Menschen gleich, es trägt kein Milliardar sichtbare Abzeichen seiner Größe am Schwimmkostüm. Das macht die ausgleichende Gerechtigkeit des Wassers. Jener dort mag in Zivil ein Arbeitsloser sein. Ohne Zivil ist er ein Badegast in besten Verhältnissen. Erst wenn er den Strand betritt, offenbart sich sein sozialer Grad. Unsere Gesellschaftsordnung ist eine festländische. Am Ufer beginnt sie bereits.
An diesem Strande kampieren nämlich Hunderte Proletarierfamilien mit Kindern, Hunden, Wagen, Wiegen, Säuglingsflaschen, Regen- und Sonnenschirmen, großen und kleinen. Es fehlt nicht an Musik. Das obligate Strandkonzert besorgen Grammophone. Ich stelle mir vor, daß einmal, vor Jahren, diese Melodien den Instrumenten einer Rivie-
rakapelle entströmt sind, eingefangen wurden in den Mechanismus aus Blech und Hartgummi, um jetzt über den Badestrand der Mittellosigkeit zu tönen. Es rasselt ein Wagner-Marsch aus blinkendem Trichter, mit jener flotten Fixigkeit gespielt, die das untrügliche Kennzeichen einer Strandpromenadenkapelle ist. Noch weht Salzluft des Originals in der tausendsten Grammophonkopie.
Die Kinder, mit übermafiigen Bäuchlein behaftet und krummen Beinchen, sind nackt. Auf ihre kranken, weichen Knochen scheint gütig die liebe Sonne herab. Die Mutter saugt das Jüngste unter dem löcherigen Regenschirm. Die Regenschirme sind die Strandkörbe dieser Riviera.
Den Hunden geht es hier besser als den Menschen. Befreit vom polizeilichen Leinenzwang, rasen sie in wilden Sprüngen kreuz und quer, graben sie mit eifrigen Pfoten Knochen aus, schießen sie weitgeschleuderten Papierknäueln nach, kostbaren Objekten hündischer Spiel- und Sehnsucht. An dieser Riviera leben die ungezogenen Hunde. Ihre Rasse ist niemals zu konstatieren, Pudel, Dackel, Wolf sind in einem
vertreten. An der wirklichen Riviera trotten adelige Seidenpinscher hinter Damen an rosafarbenen Schnüren. Brave Pinscher, besteuerte Luxustiere. Nie würde ein Hund von Kagran mit ihnen tauschen.
Ein altes Ehepaar, Großvater und Großmutter, lagert halbnackt, und ein Regenschirm eint sie und die Gemeinsamkeit eines langen Lebens und die Erwartung eines nahen Todes. Auf der warmen atmenden Erde liegen sie. Harmloses Getier kriecht über sie. Bald werden sie unten liegen, und die Tiere werden nicht mehr harmlos sein. Durch das
Loch im Dach des Regenschirmes sieht der alte Mann ein kreisrundes blaues Stück Himmel. Mehr braucht er nicht. Als er noch jung wahr, wölbte sich über ihn der ganze, grenzenlos blaue Horizont wie jetzt über die anderen, Jungen.
Wo wohnen die Strandmenschen? Kaum fünf Minuten vom Ufer entfernt ist eine neue Stadt entstanden. Primitive Hutten aus Lehm, Holz und Pappe, regellos nebeneinander-
gereiht, von Grün umsäumt, von Kohl- und Krautkopfen, von kläffenden Kettenhunden bewacht. Das große Volk der Wiener Obdachlosen wohnt hier. Jeder Tag sieht neue Hütten entstehen; Hutten aus Holz, Pappe, Lehm; mit gutgemeinten Aufschriften: «Klein, aber mein»; «Eigener Herd»; «Villa am Strande»; «Häuslein am Rain». Schüchtern wachst ein Obstbaum am Gartenzaun. Auf schwanker Leiter steht der Hüttenbesitzer und verleiht seinem Besitz die letzte malerische Vollendung. Aus der Mitte des Daches ragt der Schornstein aus Blech empor. Am Giebel bemüht sich ein kleines Wetterfahnchen, die Richtung des Windes zu erkunden. Findige Schwalben, gar nicht prätentiöse, nicht auf Prachtfassaden versessene, haben hier Nester angebracht. Im
nächsten Frühjahr werden die Storche hierherkommen – die naturhistorischen. Die legendarischen haben hier das ganze Jahr über zu tun.
Ich sah es – am Strande. Heute und morgen und solange es warm bleibt, sind die Kochherde leer, und die Kurgaste essen kalt, draußen, am Ufer. Dort wird ihr Appetit größer, aber sie vergessen es leichter. Wenn es kalt ist und regnet, ist es schwer, in diesen Hütten den Hunger, die Arbeitslosigkeit und die schlechten Kleider zu vergessen.
Außerdem heißt dieses ganze Gebiet: «Inundationsgebiet» . Es ist ein
Fremdwort, und die Bewohner dieser Riviera verstehen seine grau-
same Bedeutung vielleicht nicht. Wie, wenn eines Tages die friedliche
Donau ihnen dieses furchtbare Latein erklärt?
Aus «Wiener Sonn- und Montagszeitung», 16. 7. 1923