Rollstuhlfahrer Groll deckt Porno-Mafia aufDichter Innenteil

Ein stetiger Strom von Brüsten

Die Rebellion des Lesenden gegenüber dem Buchautor besteht darin, daß er, der Lesende, das Buch liest wie er will. Egal, wie der Autor sein Buch angelegt hat, er hat auf die Lesart keinen Einfluß. Die Freiheit der Lektüre ist grenzenlos. Sie kann sich auf die Geschichte, die das Buch erzählt, konzentrieren, oder auf den Bau der Sätze (es soll auch Spezialisten des Einstiegs geben: Leserinnen und Leser, die sich hauptsächlich dafür interessieren, wie ein Autor sein Buch anfangen läßt). Die Freiheit des Schreibens plus die Freiheit der Lektüre: erst das zusammen ergibt die Kunst des Buches. Kafkas Die Verwandlung wird erst mit den 1001 Arten, Die Verwandlung zu interpretieren, Die Verwandlung.Die Konter-Rebellion Kafkas gegen den Lesenden besteht darin, diesen mit der Wette zu überraschen: In meinem Buch sind so viele mögliche Lesarten angelegt, daß du es gar nicht oft genug lesen wirst können…

Giordanos Auftrag , der eben erschienene Roman des Wiener Schriftstellers Erwin Riess, lädt natürlich zunächst dazu ein, die Geschichte, die Riess hier erzählt, zu begleiten. Der Rollstuhlfahrer Groll ist der Wiener Korrespondent einer New Yorker Behinderten-Zeitung. Als solcher soll er in Ungarn recherchieren, was es mit dem Internet-Notruf aus einem dortigen Behindertenheim auf sich hat. Ich-Erzähler Groll und sein „Dozent“ genannter Freund stoßen auf eine Pornofilm-Mafia, die die Heiminsassen für sadistische Videos mißbraucht – die aber von „oben“ gedeckt wird.

Man kann aber Giordanos Auftrag auch als Donauroman sowie Donauschifffahrtsroman lesen, denn Groll alias Riess entpuppt sich als Strom-Fanatiker (in einem Interview mit Radio Augustin behauptete Erwin Riess, er könne die meisten der auf der Donau verkehrenden Frachtschiffe – ihre Namen bevölkern den Roman – am Geräusch erkennen). Der aus der Stromperspektive Lesende wird dankbar sein, wenn Groll-Riess ihn mit Erkenntnissen wie jener versorgt: „In der Mitte des Stroms gibt es nie Gelsen, das unterscheidet einen Strom von einem Fluß.“

Man kann das Werk auf seinen barockbolschewistischen Gehalt hin untersuchen, auch das wäre freilich keine besonders rebellische Lesart, sondern eine vom Autor nicht ungewollte. Denn es ist ja Grolls soziologischer Freund, der „Dozent“, der in den heimlichen Aufzeichnungen über Groll, die sozusagen eine sekundäre Erzählebene des Romans bilden, diese Kategorie einführt: „(Grolls) Gemüt, das steht für mich fest, ist barock, seine Denkweise bolschewistisch – G. ist folglich ein Barockbolschewik. Ein Mensch, der zwei untergegangene Epochen in sich vereint und von beiden des Schlechteste übernommen hat: vom Barock die Zügellosigkeit und vom Bolschewismus das Kasernendenken. Vielleicht sollte man aber sowohl das Barock als auch den Bolschewismus vor ihm in Schutz nehmen; seine Auffassung von beiden ist nämlich nur vulgär.“

Der/die Lesende sollte sich nicht in die Irre führen lassen, Sätze Grolls wie „Das Kreuzfahrtschiff der ungarischen Gewerkschaften, ein sogenanntes üdüllö hajó, trug den poetischen Namen >Socialista forradalom/ Sozialistische Revolution>; wie ein Pfeil durchpflügte es die Fluten der Donau“ sind selbstverständlich ausschließlich barocke Gebilde.

Man könnte sich als Lesende(r) schließlich die Freiheit nehmen, Giordanos Auftrag als Rollstuhlroman zu lesen. Erwin Riess, in erster Linie Künstler, in weiterer Linie rollstuhlfahrender Künstler, könnte dagegen Einwendungen vorbringen, aber er hat nicht wirklich, siehe oben, Macht gegenüber uns Lesenden. Wir Gehenden könnten uns die Freiheit leisten, die Perspektive des Rollstuhlfahrers einzunehmen, wozu uns die Rollstuhlreflexionen Grolls ermuntern, in denen die realen Erlebnisse des Rollstuhlerfahrenen Riess stecken:

„Ich kippte den Rollstuhl, und wir nahmen die ersten Stufen. Der Dozent war sehr konzentriert. Ich gab wie immer den Rhythmus vor. Treppenhilfe für Rollstuhlfahrer ist, wie alles im Leben, Rhythmussache. Stimmt der Rhythmus, sind auch steile Wendeltreppen kein Problem; fehlt er, können selbst niedrige Stufen zu einem unüberwindlichen Hindernis werden. Was einfach klingt, ist in der Praxis aber schwer zu verwirklichen… Jede Treppe hat ihren unverwechselbaren, einzigartigen Rhythmus; ihn zu entschlüsseln, die Treppe gleichsam zu lesen, ist Aufgabe des Rollstuhlfahrers, der Augenmaß und Erfahrung in die Beurteilung von Neigungswinkel, Geschwindigkeit und Drehmoment des gekippten Rollstuhls einbringen muß. Man kann das Treppensteigen im Rollstuhl mit dem Bergsteigen vergleichen. Lesen Sie Reinhold Messner, sage ich zum Dozenten… Würde er Reinhold Messner lesen, wüßte er, daß jeder Berg nur mit dem ihm eigenen Rhythmus zu bezwingen ist; alle Bergtragödien sind demnach auf Abweichungen vom richtigen Rhythmus zurückzuführen… Das Befahren von Treppen mit dem Rollstuhl gehorcht denselben Regeln wie das Bergsteigen, es wird nur zusätzlich dadurch erschwert, daß zwei Menschen ihre persönlichen Rhythmen kennen und koordinieren müssen, ehe sie dazu übergehen können, sich mit dem Rhythmus der Treppe abzustimmen.“

So wie der Dozent diesbezüglich vieles von Groll lernt, lernen wir einiges von Riess‘ Rollstuhlroman, wir lernen sogar zu entschuldigen, daß der Rollstuhlfahrer jeder Frau auf die Brüste starrt: „Rollen Sie zwanglos durch eine belebte Stadt und ich garantiere Ihnen, Sie werden sich in einem Meer von Brüsten wiederfinden, Brüste, die wenige Zentimeter vor Ihrem Mund, Ihren Augen, Ihrer Nase entfernt sind… Sie werden so vieler verschiedener Formen von Brüsten ansichtig werden, daß eine Ahnung von der Unendlichkeit der Natur in Ihnen aufsteigen wird, und Sie werden sich des stetigen Stroms von Brüsten nicht erwehren können, denn von Ihrer Sitzposition aus lautet die frage: Wegschauen oder Hinsehen? Ich habe mich nach langem Nachdenken für letzteres entschieden, denn das zweifellos höflichere Wegschauen würde nur zu einer weiteren Verstümmelung meiner Sexualität führen…“

Paradox: Indem wir, möglicherweise gegen den Willen des Autors (und also rebellisch), Giordanos Auftrag als Behindertenroman lesen, nehmen wir seine Drohung ernst: Der Schlag soll uns treffen, wenn wir jemanden sagen, wir hätten da eben einen Behindertenkrimi gelesen, der so authentisch sei, weil dessen Autor an den Rollstuhl gefesselt ist.

„Und ich schwöre dir, daß ich jeden, der in Zukunft den Ausdruck >an den Rollstuhl gefesselt< verwendet, sei es schriftlich oder mündlich, niederschlage. Zwanzig Jahre Aufklärungsarbeit, zehn Jahre gutes Zureden und Leserbriefe haben nichts genützt, die Phrase überfällt uns, wo immer wir auf Menschen treffen. Das muß abgestellt werden. Wenn wir die Phrase nicht ausrotten können, müssen eben jene, die nicht mehr von ihr lassen wollen, dran glauben. Da darf es keinen Kompromiß geben. Wir oder sie, das ist die Frage des kommenden Jahrtausends.“


Erwin Riess, „GiordanosAuftrag“, Elefanten Press, Berlin 1999, 284 Seiten, 281 Schilling.

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