Romeo VoidDichter Innenteil

Alfred schläft auf der Luftmatratze, denn er liebt den Luxus. Weil er den Luxus liebt, schläft Alfred auf einer Luftmatratze. Die Matratze ist weich und gibt bei jeder seiner Bewegungen im Schlaf oder vor dem Einschlafen nach, auch hat sie ihren typischen Luftmatratzengeruch nach Gummi schon seit langem verloren, weil er dafür sorgt: In seinem Waschbecken weicht er sie Stück für Stück in mit Feinwaschmittel versetztem Wasser ein, und diese Prozedur wiederholt er regelmäßig.

Illustration: Karl Berger

Heute ist ein Unglückstag. Schon bevor er aufwacht, fühlt er sich seltsam unwohl, und alle Glieder tun ihm weh. Als er dann gegen halb sechs dieses Wintermorgens die Augen einem grauen Himmel entgegen aufschlägt, spürt er den harten Holzboden unter sich. Er greift nach der Luftmatratze unter ihm, aber da ist nichts als ein schlaffes Stück Stoff ohne Luft. Jetzt tastet er den rotblauen Stoff ab und patscht dabei mit der Hand nahezu unmittelbar auf Holz. Die Luftmatratze hat ein Loch. Die Luftmatratze hat ein Loch. Der begriffene Gedanke fällt wie ein Lot in sein Hirn und pendelt eine Kette weiterer Gedanken aus, unangenehmer Gedanken.

Jetzt muss er, um die Luftmatratze flicken zu können, feststellen, wo sich das Loch befindet, und. Das bedeutet nicht nur langwierige Arbeit, sondern auch eine zusätzliche Geldausgabe im weniger als mager bemessenen Budget dieses Novembers, in dem nicht viel Arbeit wartet auf einen fünfzigjährigen Kellner mit ständig wechselnden Arbeitsverhältnissen beziehungsweise in allerletzter Zeit meist nur mehr Gelegenheitsjobs.

Früher hat er in den ersten Häusern der Stadt gearbeitet, satten Lohn und fette Trinkgelder eingestreift, von den Reichen, und seine Verachtung ihnen gegenüber haben sie nicht bemerkt, denn seine Klinge ist fein, aber er hat verabsäumt, sie zu schleifen, so ist sie mit der Zeit stumpfer geworden, und irgendwann hat man ihn nicht mehr sehen wollen in den ersten Häusern, und dann sind es die zweiten Häuser geworden, und dann die dritten, und dann hat sich das mit dem Zählen aufgehört, und es sind keine vielstöckigen palastartigen Häuser mehr gewesen, in denen er in Livree serviert hat, sondern ebenerdige Beiseln und Spelunken, in denen er sogar ohne die traditionelle schwarzweiße Kellnerkluft ausgekommen ist, und immer mehr Gelegenheitsjobs. Und seine nunmehr stumpfe Klinge ist jetzt auch schon auf den ersten Blick hin augenfällig geworden.

Vorratswirtschaft

Aber Alfred kann sich behelfen. Vor allem mit der von seiner Mutter abgeschauten Vorratswirtschaft und ihrer Art, Alfred und seinen Brüdern auf unmissverständliche Weise beigebracht zu haben, wie mit Geld und Gut umzugehen sei, vor allem dann, wenn es knapp ist, und das ist es meist gewesen. Also meidet Alfred den nachlässigen Umgang mit neuem Schuhwerk oder Kleidung, und das Sparen liegt ihm fast im Blut.

Heute ist also dieser Unglückstag mit dem Loch in der Luftmatratze, so geht er gleich nach dem Frühstück in den Drogeriemarkt, um Luftmatratzenflickzeug zu kaufen, und weil er öfters dorthin geht, kennt er den Regalarbeiter Hans, mit dem er bei jedem seiner Einkaufsbesuche ein paar Minuten verplaudert, und den er, wenn er abends frei hat, auch öfters im seinem Stammgasthaus antrifft.

Hans kommt von dem hintersten Regal, an dem er Papierservietten einschlichtet, gleich auf ihn zu. Das Neonlicht im Drogeriemarkt sirrt über ihnen, während sie sich unterhalten, und Hans hört sich das Dilemma mit dem Loch in der Luftmatratze an. Er geht mit Alfred zu dem Regal im hintersten Gang und zeigt ihm das Gummiflickzeug. Während sie über den hässlichen hellbraunen Linoleumboden nach hinten gehen, erzählt er vom vergangenen Samstag, den er wie nahezu jeden Samstag in der Freudenau bei den Pferderennen verbracht hat. Hans kennt die Pferde, die Jockeys, die Buchmacher, die Stammbesucher, die Kassiere hinter den Wettschaltern … die Rennbahn ist außerhalb seines Daseins im Drogeriemarkt sein eigentliches Leben. Die Tribünen sind die Bühne seines liebsten Theaters, das er mit Begeisterung besucht, allerdings im Parkett, denn er mischt sich unten auf dem Rasen unter die Leute, und er spielt Platzwetten und beim Hauptrennen zusätzlich eine Dreierwette, beides mit Mindesteinsatz. Meist geht er zufrieden vom Platz, mit einem kleinen Gewinn in der Tasche, den er im Gasthaus vertrinken wird. In letzter Zeit aber ist er unruhig geworden, weil er in den Stallungen ein Pferd entdeckt hat, das er für ein Spitzenpferd hält. Romeo Void, ein Newcomer mit einem hellbraunen glänzenden Fell, mit schwarzer Mähne und einem äußerst stolzen Kopf. Hans träumt und spart. Selbst die kleinen Gewinne des Samstagnachmittags vertrinkt er nicht, er hat Großes vor.

Rennplatzatmosphäre

Alfred kann sich das alles gut vorstellen. Die Rennplatzatmosphäre würde ihm auch gefallen, glaubt er, und er denkt an seine Lottoscheine, die er Woche für Woche ausfüllt. Gebracht haben sie vor allem in letzter Zeit nichts als die Ausgaben. Auf ein schönes Pferd zu setzen macht nicht nur mehr Spaß, sondern hat auch mehr Chancen als irgendwelche, aus der Luft gegriffenen Zahlen auf einem Lottoschein anzukreuzen, denkt er, und das Pferd, von dem Hans erzählt hat, kann er sich so lebhaft vorstellen, als hätte er es schon unzählige Male auf der Koppel gesehen. Hans sagt, dass Romeo Void am kommenden Samstag das erste Mal im Rennen läuft. Alfred überlegt nicht mehr lange, sie vereinbaren, sich an diesem Tag kurz vor dem ersten Rennen beim Rennplatz zu treffen. Links beim eisernen Eingangsgatter.

In der Trafik unterlässt Alfred es an diesem Tag bewusst, einen Lottoschein auszufüllen. Die Trafikantin, die ihm den Schein schon hergerichtet hat, fragt verwundert nach, er grinst sie bedeutungsvoll an und verlässt den Laden pfeifend – mit einem Päckchen Tabak, Zigarettenpapier und Filtern in der Tasche – Vorrat für das Wochenende.

Am Abend gönnt er sich ein Kotelett aus der Pfanne, mit frischem Zucchinigemüse vom Markt und Kartoffeln, dann geht er in sein Stammgasthaus. Stellt sich an die Theke. Wie immer. Bestellt ein Bier, und noch eins, der Abend wird lang. Es ist Freitag. Die meisten, die hier sind, haben das freie Wochenende vor sich. Manche haben auch die ganze Woche frei. Unfreiwillig allerdings. Auch Alfred feiert den Feierabend. Wie so oft. Diesmal allerdings mit diesem ganz besonderen Gedanken im Kopf. Er hat ein gutes Gefühl, und der Gedanke an das Loch in der Luftmatratze beschäftigt ihn nicht. Ihm ist, als müsste er die langwierige Arbeit des Lochflickens nie mehr wieder auf sich nehmen.

Dann kommt der Samstag. Ein schöner Tag. Trotz November scheint die Sonne. Beleuchtet die paar gelbbraunen Blätter, die noch an den Bäumen hängen. Scheint auch auf die nass am Boden liegenden. Um halb drei ist er am eisernen Eingangsgatter. Hans ist schon da. Sie lösen zwei Eintrittskarten.

Alfred lässt sich zögerlich ein auf die Atmosphäre des Rennplatzes. Sie gehen nach hinten zur Koppel, wo die Pferde sind. Hans beschreibt ihm die einzelnen Tiere, zählt ihre Namen auf, die Namen der Jockeys. Berichtet, welches Pferd wie viele Rennen gewonnen hat. Erklärt ihm nochmals das System der Dreierwette. Greift immer wieder nach der Brusttasche seines Hemdes, in der er den Einsatz für den heutigen Renntag verwahrt hat. Versagt sich ein Bier. Um klaren Kopf zu bewahren. Führt Alfred zu den Plätzen der Buchmacher, zeigt ihm die Monitore, auf denen die Rennen übertragen und danach in Wiederholung gezeigt werden, samt Ergebnissen, Gewinnsummen und Anzahlen der Gewinner. Für Alfred ist das Schaubild der Monitore ein undurchschaubares Gewirr von Zahlen und Nummern. Er vertraut Hans und dem, was er sagt.

Menschengetrudel

Langsam wird das Menschengetrudel auf dem Rasen dichter, die Tribünen beginnen sich zu füllen. Feldstecher baumeln um Hälse. Behütete Damen und Herren in Blazern tauchen auf der Nobel-Tribüne auf, zu der nur Clubmitglieder Zugang haben. Auch die Tribüne für das einfache Volk beginnt sich langsam zu bevölkern, mit weniger exklusiv gekleideten Menschen. Unten auf dem Rasen stellen sich die ersten beim Zelt um Langos, Wurstsemmeln und Dosenbier an. Red Bull geht auch oft über die Ladenbudel. Alfred hätte Lust auf ein Bier, aber angesichts der Ernsthaftigkeit von Hans verbietet der Anstand eine solche Luftikusserei.

Die Rennen finden ziemlich rasch hintereinander statt. Deshalb vergeht Alfred die Zeit bis zum Hauptrennen schnell. Bald können sie zu den Wettkassen gehen. Sie erledigen, was zu tun ist. Bemüht gelassen.

Als der Platzlautsprecher verlautbart, dass die Pferde, die im Hauptrennen laufen, jetzt auf der Koppel besichtigt werden können, sind sie schon längst dort und warten auf das erste Pferd, das aus den Stallungen herausgeritten wird. Die Buntheit der Renndecken und der Jockeydressen macht Alfred fröhlich. Romeo Voids Fell glänzt in der Sonne, der Jockey hockt hochmütig in Blauweiß im Sattel, sucht keine bewundernden Blicke aufzufangen. Noch zehn Minuten bis zum Beginn des Rennens.

Endlich läutet die Glocke, Alfred ist seltsam unbewegt, vollkommen unaufgeregt, beinahe gelangweilt, da ist nur eine seltsame Anspannung in seinen Bauchmuskeln, so als wäre er in einer unaufhörlichen Ruderbewegung gefangen. Jetzt kommen die Pferde von weitem her ganz klein sichtbar um die lang gezogene Kurve in die Zielgerade, Romeo Void an vierter Stelle. Hans´ Hände sind fest in das weißrostende Gitter verklammert, er atmet laut hörbar in kurzen Abständen. Langsam beginnt man, das Geräusch der auf weichem Rasenboden dahingaloppierenden Tiere zu hören, der Platzsprecher redet unaufhörlich von El Corredor und Traumgold, die das Rennen anführen. Die bunten Farben der Jockeydressen leuchten Alfred in die Augen, er sieht, wie der blauweiß gekleidete Jockey seinen Kopf dicht über dem Hals von Romeo Void hält, dessen Hufe jetzt Erdbrocken hochspritzen lassen, gleich wird er an ihnen vorbeirauschen, und es rauscht auch in Alfreds Ohren, als er den Platzsprecher plötzlich immer wieder Romeo Voids Namen rufen hört. Romeo Void zieht vor, mit fast durchgestreckten Beinen steht der Jockey und gibt dem Pferd die Gerte. Romeo Void ist Dritter, Zweiter, in Führung. Vor Alfreds Auge verschwimmen die grellbunten Farben der Rennbahn, alles wird ganz lichtblau um ihn herum, das ist der Himmel, der auf ihn einstürzt, und in diesem Himmel sieht er ein französisches Doppelbett mit dunkelrotem Satinbettzeug schweben, genau das Bett, von dem er immer geträumt hat, und diesen Traum wird Romeo Void für ihn wahrmachen. Der Platzsprecher muss ebenso begeistert sein von Romeo Void wie er, euphorisch klingt die Stimme, selbst über den blechern-verzerrenden Lautsprecher. Das dunkelrot bezogene Bett hebt sich hoch in die Lüfte und gibt wieder den Blick auf die Rennbahn frei. Jetzt sind die Pferde in Alfreds unmittelbarem Blickfeld, er richtet die Augen an die Spitze des Feldes, gleich wird das goldbraun glänzende Fell, die wehende schwarze Mähne und der blauweiße Dress an der Zielflagge vorbeirasen, und das Rennen wird vorbei sein. Der Platzsprecher skandiert «El Corredor».

Novemberkälte

El Corredor also vor Romeo Void und Lady Tara. Das Rauschen in Alfreds Ohren hat aufgehört, er blickt zu Hans, der eben seinen Wettschein zerknüllt und zu Boden wirft. Plötzlich spürt Alfred die feuchte Novemberkälte, die in seine Zehen gekrochen ist und sich in einem unangenehmen, klammen Stechen bemerkbar macht. Der Boden unter seinen Füßen ist auch ziemlich dreckig, voll mit Zigarettenstummeln und Papierabfällen, und überhaupt ist alles rundherum eigentlich sehr schäbig.

An diesem Abend hat Alfred keine Lust mehr, ins Gasthaus zu gehen. Er wird sich zu Hause ein, zwei Biere gönnen und bald schlafen gehen, denkt er. Und das tut er auch.

Am Sonntagvormittag flickt er dann das Loch in der Luftmatratze. Weil er den Luxus liebt, flickt Alfred das Loch in der Luftmatratze. Füllt das kleine Handwaschbecken randvoll mit kaltem Wasser. Er legt die Matratze Stück für Stück ins Waschbecken. Achtet dabei darauf, dass kein Wasser aus dem Waschbecken auf den Boden fließt. Beobachtet, ob Bläschen hochkommen. Stellt schließlich fest, wo das Loch ist. Markiert die Stelle mit einem Kreis mittels Eddingstift. Holt das Luftmatratzenflickzeug von Hans aus dem Küchenkasten. Flickt. Denkt daran, dass die Luftmatratze weich ist und heute schon wieder jeder seiner Bewegungen im Schlaf oder vor dem Einschlafen nachgeben wird. Er liebt den Luxus. Weil er den Luxus liebt, schläft er auf einer Luftmatratze. Vielleicht wird er sie mit dunkelroter Futterseide überziehen. Die bekommt man in der Schleierbaracke um wenig Geld.

Translate »