Rosen aus der Sperrzone – Verwurzelung verbotenDichter Innenteil

Die 100 Jahre der Elsie Slonim

Autorin und Erzählerin Elsie Slonim, eine österreichische Emigrantin jüdischer Herkunft, feiert am 21. November ihren 100. Geburtstag. Im Oktober wurde sie in Wien mit der deutschsprachigen Veröffentlichung ihres Buches «Mousie Longtail» geehrt. Im Republikanischen Club wohnte ich der Buchpräsentation und dem Zeitzeuginnen-Gespräch interessiert bei.

Foto: © Jella Jost

Ich war perplex, als ich mich auf den letzten freien Stuhl im Raum niederließ und einen kurzen Film* im Beisein der Autorin Elsie Slonim sah. Die vielen Erinnerungen blitzten auf, verflochten sich zu einem Ganzen. Ich sah die Orte, die ich so gut kannte, in dem Video wieder. Denn Elsie Slonim wohnt auf Zypern, in Nikosia, dort wo ich viele Male zu einem philosophischen Lehrer hinreiste, um in seiner Stoa Unterweisungen zu empfangen. Das ist lange her. Ich traf dort sehr interessante Menschen wie z. B. Jakob von Uexküll, er wollte meinem Lehrer den Alternativ-Nobelpreis anbieten, aber dieser lehnte ab. Ein Jahr später ebendort traf ich Samuel und verliebte mich in ihn, in diesen hochintelligenten jüdisch-arabisch-US-amerikanisch-indischen Unternehmer, der mit 34 Jahren seine Firma verkauft hatte und mit einem kleinen Flugzeug nach einer neuen Bleibe auf der Welt suchte. Er war kein Jetset-Typ, nein, sicher nicht. Ich liebte ihn und wir verbrachten intensive Wochen – als Freunde. Dann verschwand er mit einem Schiff in der Ferne. Wieder ein Jahr später lief es umgekehrt, ein österreichischer UN-Offizier, der in Famagusta, der antiken Stadt in NO-Zypern, stationiert war, zeigte reges Interesse an meiner physischen Anwesenheit und lud mich auf eine Fahrt in seinem Militär-Jeep (ich saß mit Kopftuch und dunkler Brille als «Cousine» neben ihm) in den türkischen Teil ein. Ich hatte Angst, als wir zum nordzyprischen Kontrollpunkt im Westen von Nikosia kamen. Alles lief glatt. Kurz vorher hörte ich noch die Leute reden, dass wieder Schüsse gefallen waren. Auf der langen Fahrt in den Osten der Insel zeigte er mir archäologische Fundstücke der byzantinischen und mykenischen Kultur: Basiliken und Mosaike! Osmanisches Reich! Phönizier! Assyrer! Überreste aus dem Neolithikum! Und schließlich Salamis, das antike Stadtkönigtum mit weltberühmten Grabstätten. Damals wie heute war Zypern geteilt, es wütete der Zypernkonflikt zwischen Griechen und Türken. Das war 1991.

Bougainvillea und rote Erde

So erkannte ich also manche Häuserecken in dem Video und konnte mir gut vorstellen, wie Elsie Slonim dort in ihrem Haus wohnt. Ich sah das violette Leuchten der Bougainvillea vor den Minaretten, roch die unfassbar schöne Mandelblüte im April und sehnte mich nach der roten Erde des Troodos-Gebirges, wo man im April Skifahren konnte und später am Strand ins Meer ging. Und ich werde nie die Klosterschwestern vergessen, die uns einsamen Wanderern ihr selbstgebackenes Brot überbrachten. Was für eine Insel. Was für eine Katastrophe. Wie viele Opfer durch politischen Wahnsinn. Dieses lange Leben der Elsie Slonim zwischen Flucht, Ankommen, Aufbauen, neuerlicher Flucht, wieder alles verlieren und wieder neu anfangen, Vertreibung und Angst, lädt ein, näher hinzusehen. Und ziemlich oft musste Elsie über das Meer fahren.

Elsie Slonim wurde als Tochter österreichisch-ungarischer Eltern in Brooklyn, New York, geboren. 1919 übersiedelte die Familie zurück nach Österreich. Während die Eltern 1926 eine Fabrik in Temeswar gründeten, blieben Elsie und ihre Schwester Stella in Österreich. Ab 1936 studierte Elsie in Wien, wo sie 1938 Zeugin des Einmarsches der deutschen Wehrmacht wurde. Elsie und Stella flohen vor den Nazis zu den Eltern nach Rumänien. Von dort reisten sie – dank ihrer US-amerikanischen Staatsbürgerschaft – 1939 nach New York. Mit ein Grund war, dass sie sich kurz vorher von einem Mann hatte scheiden lassen, was damals ein Tabu war und gesellschaftlich geächtet wurde. Deshalb wurde Elsie von ihrem Vater (!) verstoßen. Während der Überfahrt auf der «Queen Mary» lernte Elsie ihren späteren Ehemann David Slonim, einen Juden aus Palästina, geboren in Sibirien, kennen. Mit ihm kehrte sie noch im selben Jahr nach Europa zurück, nach Zypern, wo David Slonim Land besaß und bewirtschaftete. David war Workaholic. Elsie war trotz kolonialem Leben einsam, ein Selbstmordversuch war das Ergebnis. Nach schmerzvollen Monaten lernte sie mehr und mehr ihr Umfeld kennen, baute sich einen Freundeskreis auf und etablierte ein wenig Heimat. 1941 rechnete man mit einem deutschen Angriff, und Elsie floh nach Palästina. Wieder eine Zeit lang Heimat. Ihre nächste Station war Tel Aviv, wo sie und ihre Familie bis 1945 blieben. Wieder eine Zeit lang Heimat. 1942 und 1948 hatte Elsie Slonim ihre Kinder Reuven und Daphne zur Welt gebracht, die heute beide schon tot sind. Die Vernichtung ist ein zentrales Element in Elsies Leben. Unfassbar auch die Geschichte eines Mannes, der in Zypern als Arbeiter bei ihnen auftauchte. Elsie sagte zu ihrem Mann «Hören wir dem Mann doch zu, was er zu erzählen hat.» Es stellte sich heraus, dass genau dieser Mann ein verschollener Cousin war. Er zeigte auf seine tief ins Fleisch eintätowierte Nummer. Er und seine Frau hatten das KZ überlebt. Er war auf der Suche nach seinen Kindern. Wenig später fand er heraus, dass beide im KZ aufgrund von «Experimenten» verstorben waren. Dieser Cousin und seine Frau erhängten sich später in ihrer Wohnung. Ob es schwer war, darüber zu schreiben, zu sprechen? Ja. Elsie nickt. Vier Generationen ihrer Familie kamen in den Konzentrationslagern von Auschwitz um.

Und immer wieder hat man uns alles genommen

Ihr Mann David riskierte immer wieder lebensgefährliche Reisen nach Zypern, um sich um seine Plantage zu kümmern. Ab 1953 kamen alle zurück nach Zypern und David baute sich wiederum ein neues Geschäft auf. Am Anfang boomte noch alles, 800 Angestellte, viel Arbeit, ein gutes Einkommen, bis die Bedrohung durch den Zypernkonflikt eskalierte und ihr im türkischen Teil errichtetes Haus zum eigenen Zufluchtsort wurde. Sie verloren ihr gesamtes Vermögen. «Und immer wieder hatte man uns alles genommen», erzählt Elsie, «die Nazis, die Türken. Es war das einzige Mal, dass ich meinen Mann weinen gesehen habe; er hatte auf Zypern eine Tomatenplantage, und die Türken haben alles vertrocknen lassen, die ganzen Bäume, die Arbeit von Jahrzehnten. Heute ist es einsam geworden in meinem Zuhause, um mein Grundstück stehen nur mehr Erinnerungen an Nikosia, die Villen sind alle verfallen. Sie haben alle vertrieben von dort, alle. Sie mussten alle gehen. Nur uns haben sie bleiben lassen. Mein Haus gehört dem türkischen Militär. Aber sie sagten: Diese Leute dürfen bleiben. Nur denke ich nicht daran, dass sie es mir eines Tages wegnehmen könnten, sonst wäre ich meiner Tage nicht mehr froh.» Nachdem die Familie verarmt war, ging Elsie 1975 als Haushaltshilfe nach New York, um ihre Familie in Zypern zu unterstützen. Sie schrieb 1978 dort ein Kinderbuch, das Alfred Woschitz bei ihr in Nikosia wiederentdeckte und das in einer Neuauflage wieder erschienen ist: «Mousie Longtail». Das illustrierte Buch zeigt auf phantasie- und humorvolle Art, wie man lernen kann, auf seinen eigenen Beinen zu stehen, seine eigene Meinung zu bilden.

Zufällig stieß ich heute in der «taz» auf die bekannte feministische Autorin Silvia Bovenschen, die vor ein paar Tagen gestorben ist. Es beunruhigt, das letzte Interview mit ihr zu lesen. Sowohl was den Begriff Feminismus betrifft als auch über die derzeitige politische Ausrichtung durch Trump, atomare Aufrüstung, den Brexit, Neonazis in Europa und den mangelhaften Umgang mit Migration. Dabei sieht man gerade anhand der Geschichte der Elsie Slonim und ihrer Familie besonders erschütternd, wie leidvoll die Emigration von Menschen war und immer wieder wohl Teil der Menschheitsgeschichte und unserer Welt bleiben wird. Ich hoffe jedoch, nie wieder in solch einem grausamen Ausmaß.

Ich möchte heute meine Kolumne mahnend schließen: Alles muss sich heutzutage verjüngen, beschleunigen. Frauen und auch Begriffe (wie Feminismus) dürfen nicht mehr altern. Sie müssen sich in nicht mehr greifbaren Prozessen unterordnen, ja fast erniedrigen. Wie wichtig ist doch daher Aufklärung, Mut zu eigener Meinung und Widerstand. Danke Elsie Slonim! Doch das Gros der Bevölkerung zieht bedenkenlos fahnenschwingend hinter dem großen Helden-Wagen her, ohne links oder rechts zu schauen. Der Wagen des Patriarchats beschleunigt immer schneller.

INFO

Bücher von Elsie Slonim:

«Vom Brot im Meer – Die ersten hundert Jahre der Elsie Slonim»

2017, Verlagshaus Hernals

«Rosen aus der Sperrzone – Verwurzelung verboten»

2012, Plattform Verlag

«Mousie Longtail», 1979 auf Englisch erschienen, wurde zum 100. Geburtstag von Elsie Slonim erstmals ins Deutsche übersetzt und erscheint als zweisprachiger Abenteuerroman (Deutsch/Englisch) bei Die2 in Kooperation mit Welt & Co/Kulturverein auch als Hörbuch.

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*«Besuch im Sperrgebiet (Elsie, Cyprus)»

Made by Chris Haderer

Produktion: www.lunaSteam.com

Österreich/Zypern