Am Küchentisch (30. Teil)
Neben Aurelia sitze ich. Mir gegenüber Walter. Links Christopher. Unser Alter: 19 bis 54. Wir sind Menschen, die gerne zusammensitzen und überlegtes Reden üben, vorurteilfreies Betrachten praktizieren.
Vielleicht sind wir Menschen, die geschult und sozialisiert wurden, sich eine eigene Meinung bilden zu dürfen – Bildungsreform! Wir Künstler_innen sind Menschen, die Warnschilder aufstellen (müssen), um die Unmenschlichkeit zu entlarven, um vor ihr zu warnen, denn sie breitet sich schnell aus wie ein Lauffeuer. Das Klima in Europa köchelt dahin in Angst, in der Menschen um ihre Arbeitsplätze, um die existenzielle Basis kämpfen, um ihre psychische und physische Gesundheit weinen, in einer Gesellschaftsordnung, die durch Männer aufgebaut wurde, vor allem durch Militarismus und destruktive Werte und durch Frauen als Mittäterinnen und Vervielfältigerinnen. Nach Erich Fromm ist Destruktivität die «Folge ungelebten Lebens». Fromm wendet diesen Begriff sowohl auf die Charaktere einzelner Personen an, als auch auf Züge der westlichen Zivilisation. Erich Fromm starb 1980. Er war jüdischer Herkunft, Deutscher, Amerikaner, Philosoph und Psychoanalytiker. «Die Kunst des Liebens» schrieb er 1956. Wir sollten es dringend wieder lesen!
An meinem Tisch sitzen vier sehr unterschiedliche Menschen mit ihren Lebensgeschichten. Aurelia wurde in Bern geboren, in eine gutbürgerliche Familie, ihre Mutter war Jüdin, hineingeheiratet hat sie in eine erzkonservative Schweizer Familie, so wie ich es auch kenne, da hat man (als Frau) zu parieren (auch ein militärischer Begriff), zu gehorchen, sich zu beugen, zu unterwerfen. Ihre Mutter zerbrach daran. Wurde immer wieder zwangseingewiesen. Ich spüre die Lebendigkeit ihrer Mutter in den Augen Aurelias, sie wird wieder wach, und sie steht für mich für alle Frauen die sich den Gewalten nicht kuschelweich unterwerfen, aber deren Seelen durch strukturelle und physische Grausamkeit innerhalb der Familien verbluten. Alle Frauen, die psychiatrisiert werden und wurden. Die Psychatriereform in den 70er Jahren hat viel verbessert, auch die Gesetzgebung. Noch vor ein paar Jahrzehnten war es dem Ehemann erlaubt, die Frau in die Psychiatrie abzuschieben – sofern sie nicht so funktionierte, wie Mann es wollte. Diagnose damals: hysterisch. Funktionalismus, Leistung, Körperfeindlichkeit, so war, nein, ist es immer noch. Vieles hat sich gebessert, aber jede Generation steht wieder von neuem auf. Aurelia hat einen Film über ihre Familie gedreht: «Annamaria», ihre Mutter, die über ein großes Charisma verfügte, über starke Energien, die sich Luft machen mussten – die Ärzt_innen gaben ihr das Attribut manisch. Wie spürbar doch Worte einengen können! Wie sehr sie reduzieren und banalisieren! Wir haben die Verpflichtung, uns die unzähligen Bilder hinter den Worten bewusst zu machen, die Repression, die Unterdrückung. Wir müssen uns damit auseinandersetzen, sonst bleibt alles nur leeres Wort, inhaltsloser Satz, lauter leere Hüllen, die umherwandeln, depressiv, formlos, medial vergewaltigt.
Deshalb ist Lesen so wunderbar. Und Schreiben.
Müsste Strache sich selber entfernen?
Christopher ist im Justizmilieu aufgewachsen und wirft in die Runde, dass die Türken eine eigene Partei gründen sollten, denn wenn sie der EU beiträten, sei das der erste Schritt für ein gemeinsames Europa!
Das sollte Heinz-Christian Strache hören, da ginge aber die Minderheitenrohrpost los. Ca. 18 Prozent der Österreicher_innen haben Migrationshintergrund – Strache selbst ebenso. Müsste Strache sich selbst entsprechend also selber entfernen?! Scheint ein politischer Reflex zu sein, der blaue Flecken schlägt, nämlich die anderen – zu denen man sich natürlich nie selbst zählt – zu deportieren um der eigenen Vorteile, Ressourcen wegen. Die Flüchtlinge der afrikanischen Küste schaffen es nur bis zum Meeresgrund.
Der Erhalt der Macht erfordert einen so großen Preis.
Aurelia ist u. a. Tänzerin und filmt hin und wieder (zum aktuellen Film: siehe unten), Walter setzt sich kunsttherapeutisch mit den Kranken unseres Landes auseinander, Christopher studiert Chemie, berät meinen Sohn bei der Wahl und Zusammensetzung eines Haargels und ist Tee(-Zeremonien)-Experte, und ich schreibe. So unterschiedlich wir hier einander zugewandt sitzen und in unterschiedlichen Lebenskontexten leben und agieren, so sehr beziehen wir Kraft durch unsere einzigartigen Lebensgeschichten, durch unsere Herkunft quer durch und aus Europa und möglicherweise durch Gemeinsamkeiten wie Solidarität, Ethik, Menschlichkeit und das Leben in Wien. Diese klimatische Basis wirft den Sinn auf, auf dem unser Leben fußt. Gleiche Rechte für alle. Wer dem etwas entgegensetzt, kann nicht Mensch sein.
«Soldate Jeannette» Ein preisgekrönter Film von Daniel Hoesel. (Aurelia spielt eine Schweizer Stiftungspräsidentin, die am Geldhahn sitzt und von der Hauptfigur über den Tisch gezogen wird.)
http://www.3sat.de/mediathek/?mode=play&obj=38835
Mehr über Aurelia:
www.aureliaburckhardt.freietheater.at