Routine in Absurdistantun & lassen

Lampedusa ist ins journalistische Abseits geraten

Bezeichnend für die Eskalation des Flüchtlingselends ist, dass in den letzten Wochen die 200 Kilometer südlich von Sizilien gelegene Insel Lampedusa, nach wie vor einer der Hauptbrennpunkte des Kampfes um den Zutritt in die Festung Europa, kein Thema mehr für die maßgeblichen Medien ist. Geesche Wilts (Text) und Claudio De Capitani (Fotos vom Schifffriedhof im Westen der Insel) berichten für den Augustin von einem zehntägigen Aufenthalt auf der Insel, deren Name zu einem Code für die Spaltung des Planeten in arm und reich geworden ist.

Foto: Claudio de Capitani

Lampedusa – 20 Quadratkilometer Insel, ca. 5000 Einwohner_innen, mehrere Militärzonen, eine Kleinstadt, eine Steinwüste, eine bedrohte Schildkrötenart, ein Flughafen, ein Hafen, der schönste Badestrand Europas und Frontexeinheiten, die hier stationiert sind, weil immer neue Flüchtlingswellen auf Lampedusa landen …

An den Rucksäcken erkennen die Leute, dass wir frisch angekommen sind. Vorsichtig stellen wir erste Fragen und bekommen die Antwort, die wir die nächsten Tage immer wieder hören. «Die Flüchtlinge sind nicht das Problem.» Die Menschen streiten hier wie anderswo, aber darin scheinen sie sich einig zu sein. Die einen wollen weniger Militär, die anderen werfen der Bürgermeisterin von Lampedusa vor, sie wolle ihr Engagement nur nutzen, um in der Politik weiter aufzusteigen, und die Dritten wollen eine Medienberichterstattung, die wieder mehr Touristen auf die Insel holt. Viele Hotelbetten sind auch diesen Sommer leer geblieben. Dennoch, keiner sucht die Schuld bei den Flüchtlingen. Ein Lampedusani erklärt: «Wir sind Kinder von Fischern. Das heißt, wenn da jemand Hilfe braucht, dann bekommt er die auch. Und dann ist es egal, wer das ist.»

Eiliges Getümmel am Hafen erregt unsere Aufmerksamkeit. Eine Mole ist zur Militärzone erklärt worden. Ein Boot der Guardia di Costeria legt an, Menschen steigen aus und werden weggebracht. Alles geht so schnell, dass wir beschließen, ein paar Nächte am Hafen zu verbringen, um zu verstehen, was dort passiert. Wir schlafen in Schichten auf den harten Marmorbänken am Hafen. Immer wieder bewacht von liebevollen Straßenhunden. Eine Touristenfähre legt an, die Autos und Tourist_innen ausspuckt. Hinter der Fähre werden Flüchtlinge gesammelt. Mit dem Reisebus werden sie gebracht. Sie harren dort in der Sonne aus. Nach und nach werden es immer mehr. Rund 250 Menschen werden jeden Tag mit dieser Fähre aufs italienische Festland gebracht. Frauen und Kinder werden zuletzt an den Kai gebracht, dürfen aber zuerst einsteigen. Die Männer müssen am Kai sitzen. Bewacht von Carabinieri, die auf und ab marschieren und teils mit ihrem Handy spielen. Wenn sie abgelenkt sind, gehen wir an den Zaun und reden mit den Flüchtlingen. Ein junger Mann sagt in sehr gutem Englisch, dass er sich für die Aufmerksamkeit bedanke. Die Ersten dürfen einsteigen. In Gruppen zu 40 Personen, immer begleitet von zwei Carabinieri. Alles wirkt routiniert. Jeden Morgen sind es hier die gleichen Abläufe.

Keine zwölf Stunden später werden wieder Flüchtlinge im Mittelmeer geborgen. Die Sanitäter, der Krankenwagen, der Reisebus, alles steht wieder an der Mole der Guardia di Finanza. Und wieder sind es Guardia-di-Costeria-Boote, die Menschen herbringen. Diesmal kommen zwei Boote. Auf jedem sitzen 190 Flüchtlinge. Jede Person wird fotografiert, wenn sie von Board geht, der Blutdruck wird gemessen. Der Bus bringt sie weg. Unterdessen hält das zweite Boot. Die Menschen werden in Überlebensdecken gewickelt. Wieder kommt ein Bus.

Simone, ein Tauchlehrer, erklärt sich bereit, ein Interview zu geben. Er hat am 3. Oktober 2013, nach einem der größten Unglücke vor der Insel, geholfen, Leichen zu bergen. Danach hat er tagelang nicht gesprochen, bis er gemerkt hat, dass es auch nichts bringt. Jetzt möchte er gerne reden, weil es ihm wichtig ist, dass nichts vergessen wird. Schon früher hatte er Leichen geborgen, aber noch nie eine Katastrophe solchen Ausmaßes gesehen. Seine Taucherbrille war voll mit Tränen, und auch heute noch fühlt er diesen Schmerz, diese Wut. Er ist traumatisiert, würde diese Hilfe aber immer wieder leisten. Am liebsten würde er zu den Politikern sagen: «Kommt mal mit mir mit, wenn ich die nächsten Leichen bergen gehe. Schaut in diese toten Augen. Und sagt mir dann nochmals, dass dies die Politik ist, die zu machen ihr bestrebt seid.»

Am Friedhof der «Schlepperboote»

Auf der anderen Seite der Insel, in der geschlossenen amerikanischen Militärzone, liegen wie vom Himmel gefallen Boote mitten in der Steinwüste. Kaum ein Mensch verirrt sich an diesen scheinbar vergessenen Ort. Militärareal reiht sich an Militärareal, überall Stacheldrahtzaun. Und dann liegen sie auf einmal vor uns. Etwa zehn Holzboote und zwei Schlauchboote. Auf der Erde sind überall Kleidungstücke und Schuhe verstreut. Und auch in den Booten liegen noch Gegenstände. Ein leichtes Zittern geht durch mich hindurch, als ich eine Babyhose finde. Eines der Schlauchboote scheint selbstgebaut zu sein, Schuhe liegen verstreut auf diesem Boot. Eine der Schiffleichen scheint das Boot zu sein, das am 15. April diesen Jahres kenterte. 400 Menschen wurden damals vermisst. Am Heck des Schiffes sind Spuren eines Unglückes erkennbar. Was hat diese Löcher in das Holz gerissen?

Aus früher gestrandeten Booten haben die Aktivist_innen des anarchistischen und asylpolitikkritischen Kollektivs «Askavusa» die Gegenstände, die sie auf ihnen fanden, gesammelt. In ihrem kleinen Vereinshaus direkt am Hafen bewahren sie ihre Ausstellung auf. Schuhe hängen von der Decke, arabische Bücher stehen hinter dem Eingangstresen. Teekannen, Werkzeug, Konservendosen, Rettungswesten, Zahnbürsten. Es ist eindrucksvoll, was sie zusammengetragen haben. Von außen ist das Haus beschlagen mit Holzbohlen von zerstörten Flüchtlingsbooten.

Kurz vor der Abreise meldet sich die «Sea Watch». Sie ist auf dem Weg zum Hafen. Gespannt warten wir dort. Sie schleppt ein Schlauchboot mit sich. Sieben Tage hat die «Sea Watch» auf See verbracht. Über 600 Menschenleben haben die acht Crewmitglieder in dieser Zeit gerettet. Drei Tage wollen sie sich jetzt Zeit nehmen, die Vorräte wieder aufzufüllen, die nächste Crew an das Schiff zu gewöhnen und ein paar Reparaturen an dem über 100 Jahre alten Schiff vorzunehmen.

Billigst-Schlauchboote aus China

Ingo nimmt sich Zeit, um mit uns zu reden. Er war bei der Tour der Kapitän. Der Hamburger hat eine unbeschreiblich freundliche Ausstrahlung. In seinen blauen Augen lebt der Ozean. Der grauhaarige Mann wirkt befreit und zufrieden. Er zeigt uns ein Schlauchboot. Die allermeisten Flüchtlinge kommen mit diesen Schlauchbooten. Sie können als Billigset in China bestellt werden. Auf diesem einen Boot waren 121 Menschen. Die Fläche, auf der man stehen oder sitzen kann, ist 1,7 mal 9 Meter groß. Bei dem Boot ist auch immer ein Kompass dabei, erklären uns die Aktivisten. Den Flüchtlingen wird gesagt, sie sollen immer nach Norden fahren, dass Problem ist nur, der Billigkompass zeigt oft nicht nach Norden.

Diese Boote sind völlig überladen, und deswegen immer, wenn sie entdeckt werden, in Seenot. Die Zusammenarbeit mit der Guardia di Costeria klappt, sagen die von der «Sea Watch». Die Militärschiffe dagegen rücken nur aus, um Menschen einzusammeln, die bereits von anderen gerettet wurden. Die Militärboote bringen die Menschen dann gleich zum Festland. Die «Sea Watch» selbst nimmt keine Flüchtlinge auf. Das Boot ist dafür zu klein. Nur wenn jemand dringend medizinisch versorgt werden muss, kann die Crew helfen. Mittlerweile hat sie Rettungsinseln dabei.

Schließlich spreche ich Ingo auf die Nutznießer der Umstände an. «Das ist auch eine sehr schwierige Diskussion. Was sind Schlepper? Ich erinnere mich, als es noch zweimal Deutschland gab, da waren das Helden. Also Fluchthelfer, das waren Helden. Was die Öffentlichkeit heute an der Fluchthilfe störe, ist, dass Geld damit verdient wird.» Er erzählt, was er über die Abläufe erfahren hat. Die Menschen werden mit einem Auto an einen Strand weit außerhalb von Tripoli (Libyen) gebracht, dann laufen sie über den Strand bis zu dem Schlauchboot. Die Frage, ob man die Boote – wie jetzt in Italien diskutiert wird – abschießen soll, bevor die Flüchtlinge sie betreten, schockiert Ingo: «Das würde Krieg bedeuten».

Die Menschen auf den Booten sind auf sich alleine gestellt. Das Benzin ist oftmals schlecht, oder viel zu wenig für die Reise. Der Boden des Schlauchbootes ist schnell durchgeweicht und hält das Gewicht der Menschen nicht aus. Die Menschen an Bord sind einander fremd, oft kommt es zu Konflikten. Zwei Tage sind die Boote unterwegs, bis sie in ein Gebiet kommen, wo die «Sea Watch» sie finden kann.

Ein letztes Mal gehen wir noch durch den Ort, die fröhliche Hauptstraße entlang, wo die Touristen Walzer tanzen und Open Air Bands Musik spielen. Ich weiß, dass ich die Herzlichkeit der Menschen hier vermissen werde. An einem kleinen Stand kaufe ich noch eine Holzschildkröte, die ich der kleinen Tochter einer Freundin schenken möchte. Kaum zu glauben, dass in noch nicht weit vergangenen Zeiten die Schildkröte das Symbol für diesen kleinen Flecken Erde mitten im Mittelmeer war.