ARGE Dicke Weiber: Nicht das Übergewicht ist schädlich, sondern der Selbsthass
Ein wacher Geist in einem schlanken Körper? Die Modeindustrie normiert unsere Körpermaße, dünne Frauen sind ein Schönheitsideal. Der Effekt: Bereits normalgewichtige Menschen drosseln ihren Appetit. Der Schlankheitswahn drängt dicke Menschen umso mehr an den Rand der Gesellschaft. Rund 45 Prozent der Wiener Bevölkerung sind übergewichtig. Zwei Frauen der ARGE Dicke Weiber erzählten dem Augustin, wie es sich als dicke Frau in Wien lebt und warum sie sich für mehr Akzeptanz in der Gesellschaft engagieren.Rund 15 Frauen der ARGE Dicke Weiber tauschen sich einmal pro Monat in den Räumlichkeiten des Frauen-Lesben-Mädchen-Zentrums über ihr Alltagsleben aus. Nicht alle sind dick. «Einige Male kam auch eine dünne Frau zum Gruppentreffen, weil sie sich zu dick fühlt und unsere politischen Ziele unterstützen möchte», erzählt Patricia Wendling. Die Initiatorin der Gruppe betont, dass die Selbsthilfegruppe jedoch keine Therapiegruppe für essgestörte Frauen sei. Die ARGE Dicke Weiber, die sich als feministische Gruppe begreift, ist Teil der weltweiten Fat-Liberation-Bewegung, die durch politischen Aktivismus und Selbstbestimmung dicken Menschen ihre Eigenständigkeit zurückgeben will.
Wendling ist als Radikalfeministin der Meinung, dass «man nicht als Frau geboren, sondern erst zur Frau gemacht wird». Diese feministische Strömung begründet Unterschiede zwischen den Geschlechtern mit gesellschaftlichen Machtstrukturen und Sozialisation. In der Gruppe sind nicht alle Frauen Radikalfeministinnen, der Großteil war aber bereits zuvor politisch aktiv. Dicke Männer schließt die ARGE Dicke Frauen aus, weil diese es nicht so schwer hätten wie Frauen mit Gewichtsproblemen.
Der urfeministische Leitspruch «Das Private ist politisch», demnach Frauenunterdrückung von persönlicher Erfahrung ausgehend analysiert wird, prägt Wendlings Einstellung. Ihr Engagement in der autonomen Frauen- und Lesbenbewegung machte Wendling Mut, um im Mai 2009 die ARGE Dicke Weiber zu gründen. «Ich wollte einfach schauen, ob es in Wien interessierte Frauen mit ähnlichem Willen zur Veränderung gibt», erinnert sich die Initiatorin. Wichtige Anliegen der ARGE Dicke Weiber sind Stärkung des Selbstbewusstseins, Selbstermächtigung, politische und persönliche Reflexion in der Gruppe, Öffentlichkeitsarbeit und politischer Aktivismus.
Die Barbara Karlich Show verweigert
Der Austausch in der Gruppe findet in der gemütlichen Bar des Frauenzentrums statt. Wendling bringt ein Beispiel für Diskriminierung: «Eine Betroffene berichtete in der vertrauten Gruppe, dass sie aufgrund ihres Gewichtes bei einer Ausbildung abgelehnt wurde und aufgefordert wurde, zuerst ein paar Kilos abzunehmen.» Diese Art von Degradierung führt dazu, dass sich viele dicke Menschen kaum mehr vor die Türe wagen. «Es gibt Frauen, die sich lediglich über Facebook mit uns austauschen, jedoch nie zum Gruppentreffen kommen», weist Wendling hin. Die Selbsthilfegruppe setzt sich aus Damen aller Altersgruppen zusammen und gibt auch Lesben die Möglichkeit, sich offen als solche zu deklarieren. Dinge offen beim Namen zu nennen ist der Gruppe wichtig, Gewichtsreduktion hingegen überhaupt nicht.
Viel eher unterhalten sich die Frauen über Strategien, durch die sie zu mehr Selbstbewusstsein gelangen können. «Der öffentliche Diskurs ist noch Zukunftsmusik, weil wir zuerst mit der alltäglichen Diskriminierung umgehen lernen müssen,» meint Wendling. Die 38-Jährige hat ihre blonden Dreadlocks zu einem Zopf gebunden und ihren molligen Körper in farbenfrohe Kleidung gehüllt. Sie gibt zu: «Mir hilft schrille Mode und gutes Aussehen, um meinen Körper nach jahrelangem Leidensprozess endlich lieben zu lernen.» Seit ihrem zehnten Lebensjahr kämpfte die initiative Frau gegen ihr Gewicht an, bis sie vor einigen Jahren beschloss, ihren Körper wie er ist zu akzeptieren. Die Frage, ob dicke Frauen sich generell mehr anstrengen müssen als Normalgewichtige oder Schlanke, bejaht Wendling. Euphemistische Umschreibungen sind ihr suspekt, weshalb sie keinesfalls als «Frau mit Format» oder gar als «Rubensfrau» bezeichnet werden möchte. Die humorvolle Aktivistin macht klar: «Vorgeführt werden wollen wir nicht.» Im Sommer 2009 lehnte die Initiatorin der Gruppe daher eine Einladung in die Barbara Karlich Show ab.
Der Giraffenhals als Maßstab
Zurück zum Alltag dicker Frauen, die täglich unter Ausgrenzung leiden. Allein das Angebot an dezenter Mode ist gering und jeder Kleidungskauf frustrierend. «Als Kind ließ mir meine Mutter Kleidung nähen», erzählt Wendling und bezeichnet es als große Marktlücke, dass sich vor allem jüngere Frauen einem äußerst begrenzten Angebot an Schnitten gegenübersehen. Der Grund liegt für die 38-Jährige darin, dass Haute-Couture-Designer einen androgynen Körperbau bevorzugen. Dieser auf Frauen mit Giraffenhals und schmalem Becken abgestimmte Stil werde bei Designer-Modeschauen von Billigproduzenten übernommen. Als Hauptursache für die geringe Auswahl in Übergröße-Geschäften sieht Wendling die Ablehnung üppiger Körper auch von Seiten jener Modeschöpfer, die speziell für mollige Frauen Kleidungsstücke entwerfen.
Neben der Initiatorin der politisch aktiven Selbsthilfegruppe ist auch Christine Abdel Maguid-Fiedler zum Interview gekommen. Die aufmerksame Zuhörerin sitzt in einem gemütlichen Ledersessel und zündet sich eine Zigarette an. Kleidung ist für die 51-Jährige nebensächlich. Sie trägt ein schwarzes T-Shirt, eine schwarze Hose und bequeme Männerschuhe. Die bisexuelle Frau kleidet sich geschlechtsneutral. Abdel Maguid-Fiedler trat der ARGE Dicke Weiber bei, um zu zeigen, dass sie genauso toll ist wie der Rest der Menschheit. Die schlagfertige Frau gibt zu, dass ihr die verbale Überlegenheit als Schutz vor Beleidigungen diene. Die Gefahr einer Isolierung bestehe in ihrem Leben nicht: «Zum Glück habe ich viele dicke Frauen in meinem Freundeskreis, mit denen ich gemeinsam ausgehe und Partys feiere.»
Sie erinnert sich an ein diskriminierendes Erlebnis auf einem Ball: «Ein junger Bursche schielte mir auf Bauch und Busen und fragte, ob das alles echt sei. Ich klopfte auf meinen Bauch und konterte: Alles meins!» Genauso selbstbewusst hielt sie auch bei der Frauendemonstration mit großer Überzeugung eine Ansprache. Darin betonte Abdel Maguid-Fiedler, dass sich die «Dicken Weiber» nicht krank reden lassen. Mit dieser Aussage kritisierte sie vor allem die Einstellung von Ärzten, die runde Menschen als krank klassifizieren. Doch nicht nur Mediziner prägen diese Sichtweise. Trotz ihres Selbstbewusstseins stört es die 51-Jährige, wenn Menschen aus dem engeren Umfeld sich Sorgen um ihre Gesundheit machen. «Da ist es mir lieber, sie sagen mir, dass sie mich grauslich finden.»
Die Liste der dickenfreundlichen Ärztinnen
Ärzte führen den Großteil der Erkrankungen dicker Menschen auf das Übergewicht zurück, ohne näher auf den Patienten einzugehen. «Viele in unserer Gruppe waren jahrelang nicht beim Arzt, weil sie die Stigmatisierung erzürnt», erläutert Abdel Maguid-Fiedler die Hemmschwelle. Aus diesem Grund erstellt die ARGE Dicke Weiber eine Liste von dickenfreundlichen Ärztinnen und eventuell auch Ärzten. «Wir beschränken uns auf Empfehlungen aus der Gruppe», meint Wendling. Viele dicke Menschen werden auf ihren Body Mass Index (BMI) reduziert. Diese Maßzahl wurde von amerikanischen Lebensversicherern erstmals auf Einzelpersonen zur Berechnung von Prämien angewandt. Ursprünglich wurde der BMI nur für den Vergleich ganzer Populationen verwendet.
Am Ende des Gespräches mit den beiden Frauen der ARGE Dicke Weiber liegt mir die Frage auf der Zunge, was die beiden Feministinnen über schlanke Karrierefrauen denken. Wendling äußert sich dazu sehr eindeutig: «Je weiter Frauen in Machtpositionen aufsteigen, umso mehr müssen sie einem Bild entsprechen, das keinesfalls eine weibliche oder gar sinnliche Ausstrahlung erlaubt. Weiblichkeit wird daher gerne versteckt. Karrierefrauen werden oft auf ihren Körper reduziert.» Der radikalen Feministin fällt es leicht zu beweisen, dass die Welt nach wie vor von Männern dominiert wird und dass Frauenkörper im neoliberalen Patriarchat zur Ware gemacht werden. Diese Ware hat nicht nur schlank zu sein, sondern auch jung, glatt, fit und enthaart.
Eine steigende Zahl an dünnen Frauen befürchtet, zu dick zu werden, sobald sie sich gehen lassen. Sie glauben im Umkehrschluss, dass es dicken Frauen an Willensstärke mangelt. «Dieser Hass auf uns macht uns erst wirklich dick. Nicht das Übergewicht ist schädlich, sondern der Selbsthass, den du verinnerlichst, viele können Essen nicht mehr genießen, weil sie sich dafür schämen», bemerkt Wendling. Die mollige 38-Jährige findet, dass eine Gewichtsreduktion nicht immer dem freien Willen unterliegt. Es gibt viele Menschen, die weniger essen als dünne, weil deren Körper rascher Fettgewebe aufbaut.
Die ARGE Dicke Weiber kritisieren mit ihrer Forderung nach Gleichberechtigung dicker Frauen auch den «freizeit- und konsumorientierten» Körper, der zunehmend für das «Überleben» in der heutigen Gesellschaft wichtig wird. Vielleicht wirkt ihr positiver Aktivismus als Initialzündung, um das enge Korsett, in das moderne Frauenkörper gezwängt werden, wieder aufzulockern. Körperfülle könnte so wieder als weibliche Besonderheit gelten. Mut zur Vielfalt beweist die Gruppe schon jetzt.