Cherchez la Femme (04/2022)
Es kann passieren, dass sich Ereignisse überschneiden oder in der Mitte treffen. Dann gibt es eine kleine Explosion in meinem Inneren. Zündstoff der Erinnerungen und als Kind Gehörtes gesprengt mit aktueller politischer Situation, in einem Land unweit von mir. Illusion und Realität. Wumm! Mein geliebtes russisches Märchenbuch Die Wunderblume fliegt mir jetzt um die Ohren, saust in neuronalen Bahnen mit wahnwitziger Geschwindigkeit. Meine geliebte geliehene russische Kindheit. Ich muss das erklären: Während meiner gesamten Kindheit wurde ich überschüttet mit Büchern aus der Sowjetunion und Tschechoslowakei. Die Bücher kamen von meinen Verwandten in der DDR kistenweise nach Wien per Post. Bücher kosteten dort nichts. Kann man sich kaum vorstellen heute. Wäre eine grandiose Idee, das zu übernehmen. Relikt eines Staates, den es heute nicht mehr gibt. Staaten kann man wegradieren, so wie Westdeutschland eine leere Fläche auf den Landkarten der DDR war, aber Menschen? Und wir tun es dennoch. Immer und immer wieder. In jedem Krieg dasselbe. Blut. Fleisch. Schlacht. Ach, ihr sehnsüchtigen russischen Märchen, wie sehr habt ihr meine Kindheit geprägt! Kein Märchen ohne Bedrohung, ohne Gewalt. In jeder Geschichte Unterwerfung, Ausbeutung und unfassbares Elend ohne Ende. Ja. Ohne Ende.
Tiefe und Wucht
«Früher war es nicht so wie jetzt. Früher geschahen noch Wunder auf der Welt, und auch die Welt selbst war nicht so, wie sie jetzt ist. Zu unserer Zeit gibt es von alledem nichts mehr. Ich will euch ein Märchen erzählen von Baba-Jaga und berichten, was das für eine war.» Die Märchen in Die Wunderblume sind voll Zauberei, Verwandlung und raffinierter Trickserei, um Situationen zu entfliehen, die unangenehm oder tödlich sein können. Gut entpuppt sich meistens als ziemlich böse. Aber auch das Böse hat seinen Charme. Nicht wahr, das kennt man doch. Und die Fantasie spielt Raffinesse. Die Zeichnungen von Gerhard Goßmann in dem Märchenbuch Die Wunderblume werden mich ein Leben lang begleiten, in ihrer Tiefe, in ihrer Wucht. Beeindruckend und sehr aufrüttelnd seine Radierungen und Zeichnungen gegen Krieg und Not. Das Märchen hatte im russischen Geistesleben stets eine wichtige Rolle gespielt. Und natürlich wurde die Form des Märchens gewählt, um darin Systemkritik zu verstecken und um der Zensur zu entgehen.
Gerhard Goßmann lebte von 1912 bis 1994, arbeitete als Graphiker in der DDR, der sich als Illustrator einen Namen machte und der zu Unrecht in Vergessenheit geriet. Die russischen Volksmärchen aber wurden zwischen 1855 und 1863 von Alexander Afanassjew gesammelt. Seine Sammlung ist mit etwa 600 Märchen eine der größten der Welt. Neben den Zaubermärchen um die Figur der Baba-Jaga mit ihren Hühnerbeinen, sind es vor allem Tiermärchen, wobei die Tiere des Waldes wie Fuchs, Bär und Wolf eine Hauptrolle spielen. Es fehlt jedoch meist der direkt belehrende Charakter, den Tierfabeln haben, und in moralischer Hinsicht sind diese Tiere oft indifferent, eigentlich nur unberechenbar. Manchmal beschützen sie den Helden, manchmal sind sie gefährliche Raubtiere. Das gilt auch für die Figur der «Hexe» Baba-Jaga. Aber die Baba-Jaga ist zu weitaus mehr fähig, als auf «Hexe» reduziert zu werden. Baba-Jaga ist eine Greisin-Göttin, Ur-Frau, Übermutter im besten Sinne; gefährlich radikal, meisterinnenhaft, intelligent, schlau, gewaltbereit, hilfsbereit, konsequent als Hüterin des Frauen- und Mädchenreiches, des Lebens und des Todes. Sie ist sozusagen «Baba-fluid». Männliche und weibliche Aspekte fließen in ihren Adern, und zwar genauso wie sie gebraucht werden. Fahrt zur Hölle mit euren Konventionen, denkt sich die Baba-Jaga. Historisch gesehen ist die Baba-Jaga möglicherweise eine Erbin der Mokoš («feucht»), schreibt Petra Schönbacher in dem wunderbaren Buch Das Feuer der Baba-Jaga (Edition Roesner). Der Göttin Mokoš kam im ostslawischen Raum eine besondere Bedeutung zu. Die Verehrung der Erde als der großen Mutter des Menschen hat Wurzeln bis ins Neolithikum, und auch im russischen Pantheon wird die Mutter Erde von der Göttin Mokoš repräsentiert. Noch im 16. Jahrhundert sollen sich orthodoxe Priester erkundigt haben, ob zur Mokoš gebetet wird. Sie hat einen großen Kopf und lange Hände, ganz so wie die Baba-Jaga. Die heilige Paraskeva ist die Nachfolgerin der Mokoš. Geliebtes «Mütterchen Russland», welches Fieber hat dich so arg erwischt, dass du alles vernichten musst, Gebärende, Kinder, Alte und deine Brüder. Und Baba-Jagas Hütte steht am Ende der Welt …
«Lebe und arbeite eine Weile bei mir, dann werde ich dir Feuer geben, andernfalls werde ich dich fressen.» Baba-Jaga
Die Zugehörigkeit der Baba-Jaga zu einer anderen Welt drückt sich auch darin aus, dass sie die Andersartigkeit von Menschen hervorhebt, besonders deren Geruch. «Pfui, pfui! Hier riecht es nach Russen!», sagt sie, als sie zu ihrer Hütte kommt, vor der Vasilisa wartet. Von Political Correctness weiß die Jaga nichts und sie meint explizit auch nicht die Russen, sondern die Menschen allgemein. Die Baba-Jaga hat Zugang zum Totenreich. Die Begegnung mit dem Tod, die Initiation, findet unter der Ägide der Baba-Jaga statt. Die Baba-Jaga ist eine machtvolle Person. Ja, jetzt ist es wieder Zeit zu lesen, Berichte aus Russland, ein Werk des großartigen Zeichners Igort. Das ist in der Tat schwere, harte Kost und muss mit einer Warnung versehen werden, vor Bildern, die wir sonst so nicht zu sehen bekommen. Das sind keine Märchen, das ist russische Realität. Dennoch ist es mir möglich einzutauchen in die Geschichte, geformt von den Zeichnungen von Folter und Grauen. Sie machen es mir möglich hinzusehen, weil sie Distanz erzeugen. Und das halte ich in diesen Zeiten für essentiell. Hinsehen. Aber ich brauche nicht jene Postings von Leuten, die sich mit der Aufnahme von ukrainischen Flüchtlingen in ihrem Facebook-Profil brüsten. Das ist mir zuwider. Was erwarten diese Leute? Social-Media-Applaus! Zurück zu Igort. Er lebte zwei Jahre in Russland, nachdem Anna Politkowskaja ermordet wurde, interviewte zahlreiche Leute, die sie kannten, und verfasste so seine visuell-künstlerisch einzigartigen Berichte. Ich lese das Buch in einer Stunde. Anschließend brauche ich eine Pause, um wieder zu mir, hier, in meine friedliche Realität zu kommen. Und doch triggern die Bilder und Berichte aus der Ukraine jene ständig wiederkehrenden Erzählungen meines Vaters über den Krieg, später die DDR, dann Flucht und Panik vor Stasi und Gulag. Ich bin richtig froh darüber, dass meine Eltern nicht mehr leben. Nicht mehr diese Angst wieder und wieder ertragen müssen, neuerlich wachgerufen durch die Bilder, die wir nun täglich in den Medien sehen. Langsam begreife ich die Paranoia meiner Mutter, meiner Tanten, vor den russischen Soldaten. Die Zachistka ist im Militärjargon die grausige Übersetzung von Säuberungsaktion. Sie ist nichts anderes, schreibt Igort, als Raubzug, Strafexpedition gegen die Zivilbevölkerung. Die grundlose Gewalt gegen Alte, Frauen und Kinder ist wie eine Droge. Nach ihrer Heimkehr beginnen die Soldaten sich gegenseitig auszurauben. Sie verspüren das Bedürfnis nach Gewalt. Es gibt Berichte über eine Theaterschule in Moskau, die von Heimkehrern aus Grosny überfallen wurde. Sie schlugen die tschetschenischen Studenten und den Professor zusammen und zwangen sie, auf dem Boden zu «schwimmen». Diese Gewaltsucht, gehört zu den Symptomen einer psychischen Störung, die von Mediziner*innen untersucht wird und als Tschetschenien-Syndrom bezeichnet wird. Es gibt aber kein ernsthaftes Interesse an einer Behandlung.
«In uns allen pulsiert das gleiche Blut. Dieses Blut, das während des Krieges in Strömen geflossen ist, schießt jetzt in unseren Adern wie Adrenalin. Wir landen in einem dunklen Zimmer ohne Tür. Und sobald die Wirkung nachlässt, begreifen wir, dass wir einsam sind, dazu verdammt, nach Menschen zu suchen, die wie wir keine Worte brauchen, um zu kommunizieren. Menschen, die Dinge erlebt haben, die die meisten Leute nicht kennen.
Vielleicht möchten wir unser Geheimnis, dieses Geheimnis namens Krieg, mit jemandem teilen. Aber wer in Frieden lebt, hat kein Interesse daran, uns zuzuhören.»
Anna Politkowskaja, Nowaja Gaseta, 29. 10. 2001
Ermächtigende Wiedergutmachung
Ich lese wieder in meiner Wunderblume. Alle Märchen fungieren als psychologische visionäre Hilfe, als ermächtigende Wiedergutmachung, um sich aus dem Elend mittels Zauberei, Held*innen und Mythen zu befreien und zumindest gedanklich etwas anderes im Kopf zu haben als Demütigung, Gewalt und Not. Ich wünsche meinem Mütterchen Russland mehr als das. Ich hoffe auf Graswurzelbewegungen, echte Revolutionen und Etablierung stabiler Demokratien. Aber nach dem heutigen Down-Ranking Österreichs zur Wahldemokratie haben auch wir ein klein wenig zu tun. Ganz ohne Märchen.
Also ein klein wenig.
Info:
Die Wunderblume. Märchen aus der Sowjetunion
Verlag Kultur und Fortschritt 1955
Igort: Berichte aus Russland
Reprodukt 2012