Sanierungszyklenvorstadt

Laut Büro der Wohnbaustadträtin sollen Bücherei und Jugendtreff am Standort bleiben (Foto: © Lukas Vejnik)

Das Bezirkszentrum Kagran ist nach nur 55 Jahren zum Abriss freigegeben, zu Gunsten eines «klimafitten Stadtviertels». Architekturexpert:innen bewerten dieses Gebäude allerdings als sanierungswürdig.

 

Am Schrödingerplatz sind beinahe alle Fahrradabstellplätze frei. Liegt es am kalten Wind? Oder wird der Platz kaum noch frequentiert, nachdem letzten November dort das Amtshaus samt Bezirksvorstehung und Stadtkassa für den 22. Bezirk «entsiedelt» worden ist? Wahrscheinlich beides. Noch geöffnet haben die VHS Donaustadt (der Veranstaltungssaal dient momentan als Impfzentrum), die Zweigstelle der Städtischen Bücherei, eine Apotheke und der Jugendtreff.
Ich bin mit Elise Feiersinger und ­Johann Gallis verabredet. Beide sind u. a. für die Österreichische ­Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) tätig. Erstgenannte hat tatsächlich wegen des fahrradunfreundlichen Wetters die U-Bahn genommen. Rund zehn Minuten Fahrzeit sei es von der Innenstadt ­hierher gewesen, erzählt Feiersinger. ­Quasi nicht der Rede wert, doch in vielen cisdanubischen Köpfen liegt Kagran in einem weit entfernten Land, aber mit Betongoldvorkommen. Die Immo­branche schürft schon längst und die Poli­tik ebnet(e) ihr dafür buchstäblich das Feld: Im November 2022 ­informierte die Planungsstadträtin Ulli Sima, dass anstelle des Bezirkszentrums Kagran, ein «klimafittes Stadtviertel mit leistbarem Wohnraum und vielen Orten der ­Begegnung» entstehen soll. Wann die Bagger anrücken, ist noch offen, denn das Verfahren zur Neufestsetzung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplans steht noch aus. Immerhin sollen von den kolportierten 350 Wohnungen laut MA 21 mindestens zwei Drittel ­gefördert errichtet werden.

Multi-Use-Ensemble

Für das Amtshaus samt Anhängsel wurde in der Nähe, im Vienna Twentytwo am Dr.-Adolf-Schärf-Platz, ein Unterschlupf gefunden. Die MA 34 Bau- und Gebäudemanagement schreibt in ihrem Leistungsbericht 2021: «Das in die Jahre gekommene ­Objekt in 22., Schrödinger Platz (!) 1 wird zu Gunsten eines modernen und zeitgemäßen Neubaus entsiedelt.» Und zu Gunsten des Portemonnaies von René ­Benko, denn das Vienna Twentytwo ist ein ­Gemeinschaftsprojekt von Benkos ­Signa Holding GmbH und der Austrian Real Estate (ARE), einer Konzerntochter der Bundesimmobiliengesellschaft m. b. H. (BIG). Laut Betreiber:innen ein «Multi-Use-Ensemble». Das klingt cool – und teuer. Zu welchen Konditionen die Einmietung erfolgte, hat ein Sprecher der Stadt Wien mit dem Verweis auf rechtliche Gründe, die Interessen ­Dritter ­betreffend, nicht verraten.

Auf ins Foyer

Elise Feiersinger schlägt vor, für unser Gespräch das Foyer der VHS aufzusuchen. Begleitet wird die Architektin, Übersetzerin und Architekturkritikerin von Johann Gallis, Kunsthistoriker mit Forschungsschwerpunkt österreichische Nachkriegsarchitektur. Beide sind für die Österreichische Gesellschaft für Architektur (ÖGFA) tätig, die zu einer Stadtdiskursvisite zum Bezirkszentrum Kagran einlädt. Die ÖGFA erörtert im Rahmen dieser Veranstaltung die Frage «Wie gehen wir mit unseren Ressourcen um?». Hintergrund: Weltweit stammen 40 Prozent des CO2-Austoßes aus dem Bausektor.
Gute Frage, die ich an Elise Feiersinger ­richte, denn Architekt:innen, so meine Unter­stellung, würden lieber neu- als umbauen. «Bis heuer war für die Erst- und ­Zweitsemestrigen bei der Hochbau-1-Übung immer ein Neubau das Thema. Jetzt ist die Aufgabe fast diame­tral gegenübergestellt, die Studierenden müssen von der Stückguthalle am Nordwestbahnhof eine Bestandsaufnahme machen und heraus­finden, welche Bauteile wiederverwendbar sind. Dann dürfen sie auf diesen Schatz für ­einen Entwurf für eine Mehrzweckhalle zurückgreifen.» Die Lehrbeauftragte der TU Wien erzählt weiter, dass mittlerweile die Studierenden hinsichtlich Greenwashing sensibilisiert werden, was auch Früchte trägt, denn das Jahresschwerpunktthema der ÖGFA «Stop Building now! Alles wird Umbau» sei nämlich von jungen Kolleg:innen vorgeschlagen worden.

Mattersburger Kulturzentrum

Johann ­Gallis machte sich bereits als 21-jähriger Student ­einen Namen, als Mitbegründer und Sprecher der Plattform «Rettet das Kulturzentrum Mattersburg», ein «ganz im Geiste des Brutalismus», so der Kunsthistoriker, errichteter Bau. Das Protestmittel lautete im Jahr 2014 aber noch nicht Superkleber, sondern Tinte. Die ­Unterschriftenaktion verlief mäßig erfolgreich, «das KUZ wurde bis auf ein paar Fassadenkulissen im Prinzip abgerissen», erzählt Gallis. Aber die Debatte erreichte eine internationale Dimension: Das Deutsche Architekturmuseum (DAM) schaltete sich ein, denn es beschäftigte sich zur selben Zeit intensiv mit dem «Brutalismus», der Sichtbetonbauweise in der Moderne (www.sosbrutalism.org). Davon ließ sich sogar das österreichische Bundesdenkmalamt (BDA) beeindrucken: «Das BDA hat im Falle des KUZ erkannt, dass es ein ­Problem gäbe, dass ­immer mehr Bauten [der Moderne] verschwinden würden.» Lösungsansatz: Johann Gallis, sein Herausgeberkollege Albert Kirchengast (Brutalismus in Österreich 1960–1980) und Stefan Tenhalter sind vom BDA mit der Inventarisierung von relevanten Nachkriegsbauten im Burgenland beauftragt worden. Nun aber wieder zurück in die Donaustadt.

Funktionierendes Fragment

Beim Bezirkszentrum Kagran handle es sich für Johann Gallis um «eines der unbekannteren Objekte im Spektrum der Nachkriegsarchitektur in Wien». Dieser Komplex sei im Kontext von Roland Rainers Stadtplanungskonzept aus den frühen 1960er-Jahren zu sehen. Es wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, gewonnen haben Heinrich Mathá und Karl Leber. 1969 wurde mit dem Bau der ersten Phase begonnen, «es hätte noch viel weiter gehen sollen, mit weiterer Ladenzeile, mit Wohnhochhaus, mit Ärztezentrum, mit Café-Restaurant», weiß Gallis. Doch davon sei man abgekommen, «so blieb dieser Bau ein Fragment, das aber in sich funktioniert», meint der Kunsthistoriker, und mehr noch, «die Qualität dieser Architektur ist ihre Stahlbetonskelettbauweise, was dem Gesamten eine irrsinnige Flexibilität gibt. Die Innenwände sind versetzbar, ohne statische Probleme zu bekommen. Ein weiterer Vorteil ist, dass solche Bauten noch nicht mit Technik überfrachtet sind. Eine Umnutzung wäre also kein Problem.»
Die Architektin kann dem Kunsthistoriker nur zustimmen, räumt aber ein, dass die thermische Sanierung eine Herausforderung darstellen würde, bevor sie weitere Vorzüge dieses Gebäudes aufzählt: «Die gute Akustik ist nicht selbstverständlich, das Raumklima ist extrem angenehm, ebenso die Durchlässigkeit zwischen Außen- und Innenräumen. Es gibt eine verschiebbare Bühne (im großen Saal, der 2005 saniert worden ist, Anm.), eine solche kostet unglaublich viel, oder die Technikgalerie – alles zusammen sehr überzeugend.» Aus ihrer Sicht habe man hier in den letzten Jahren mit minimalen Mitteln vor allem die VHS und die Bibliothek in einem guten Zustand erhalten.
Ein Abriss-Argument sei die nötige Dacherneuerung gewesen, für Feiersinger aber nicht zulässig: «Bei einem neuen Gebäude muss auch ein Dach drauf, und es braucht auch ­Instandhaltungsarbeiten!» Johann ­Gallis ­erläutert: «Nach 50 Jahren ist es logisch, das hat nichts mit schlechter Bauqualität zu tun. Es gibt Sanierungszyklen, sowohl bei einem Ringstraßenpalais als auch bei einem modernen Bauwerk.»

Fehlende Bestandsanalysen

Elise Feiersinger vermisst bei politisch Verantwortlichen die Bereitschaft, umfassende Bestandsanalysen zu beauftragen: «Klar kosten diese ­etwas, aber ein Gebäude abzureißen, kostet auch ­etwas.» Die Öffentlichkeit müsste den Mut ­aufbringen, «harte Fakten zu verlangen, hier ist alles messbar, wie die CO2-Emissionen, und man kann die Kosten gegenüberstellen (Neubau vs. ­Sanierung, Anm.).» Dazu Johann ­Gallis: «In der Bewertung des Bestandes wurden immer nur Teilaspekte, wie der Heizwärmebedarf, herangezogen. Wenn man aber die ‹Graue Energie› miteinrechnet, also die gesamte Energie, die schon verwendet wurde, für die Baustelle, für das Bauen selber, für die Benutzung etc., dann schaut es ganz anders aus.»
Die beiden nennen noch gelungene ­Beispiele für Sanierungen von Nachkriegsbauten in Wien, wie die Wohnhausanlage Gerasdorfer Straße 61 oder das Strandbad ­Gänsehäufel, ­bevor ich mich wieder Richtung Fahrrad ­begebe. Mir fällt auf, die Lettern «Amtshaus der Stadt Wien für den 22. Bezirk» sind noch nicht entfernt worden: Ist das ein gutes Omen? Wird sich noch jemand am Bezirkszentrum festkleben? Oder wird die Abriss-Fraktion in ein paar Jahren in der Rooftop-Bar auf einem der fürs neue «klimafitte Stadtviertel» geplanten Hochhäuser auf ihre Greenwashing-Strategie anstoßen?

 

Stadtdiskursvisite Bezirkszentrum Kagran, 24. März:
Teil 1, 14.30 Uhr: Das Zusammenwirken von Stadtentwicklung, Baukultur und Verkehr
Teil 2, 16 Uhr: Gebäudeführung mit anschließender Diskussion Anmeldung unter: www.oegfa.at/programm/veranstaltungen