Schadstelle Bürgerbeleidigungtun & lassen

Die Freiheit des Tempelhofer Feldes in Berlin

«Freiraum für die Stadt von morgen. In Tempelhof entsteht ein moderner Park mit neuen Stadtquartieren an seinen Rändern» – so steht es auf der Website der «Tempelhofer Freiheit», dem Stadtentwicklungsprojekt für das alte Westberliner Flugfeld. Das Tempelhofer Feld ist eine Industriebrache der Sonderklasse, ein riesiges Areal in der Mitte der Stadt, das seit der Schließung des Flughafens 2008 unkommerziell vor sich hin genutzt wird. Das soll sich ändern. Gegen die Bebauung und damit einhergehende Regulierung dieses riesigen urbanen Freiraums wehrt sich seit 2011 die Initiative «100 % Temeplhofer Feld».Die Gewalt einer Sprache ist nicht, dass sie das Fremde abweist, sondern dass sie es verschlingt, sagte Goethe. Die «Tempelhofer Freiheit» in Berlin betreibt dieser Tage eine urbane Entwicklungspolitik, die vom Spiel mit der Sprache, aber auch mit den Bedürfnissen von Menschen und ihrer Menschlichkeit geprägt ist. Ihre Kontrahentin in diesem Kampf von David gegen Goliath ist die Bürger_innen-Initiative 100 % Tempelhofer Feld (www.thf100.de), die im Frühjahr dieses Jahres mit Beharrlichkeit und Leidenschaft weit mehr als die notwendigen Unterschriften einsammelte, die nun den Berliner_innen zu einem Volksentscheid am 25. Mai über die Zukunft des Tempelhofer Feldes verhelfen. Ein erster Sieg?

Es geht um Freiraum, es geht um öffentlichen Raum. Es geht um mehr als lediglich das «Tafelsilber» (Grund und Boden), wie es eine der Aktivist_innen bezeichnet. Das Tempelhofer Feld, einst Flugplatz der Nazis und «architektonischer Huldigungsakt» an Hitlers Welthauptstadt Germania, wie es Randy Malamud beschreibt, war viel früher noch, seit dem 18. Jahrhundert, militärisches Manövergelände. Im Verlauf der Jahrhunderte wurde es immer wieder von den Bewohner_innen als Freizeitgelände benutzt. Die Veränderung seiner Nutzung für die Luftfahrtsgeschichte, die vielen Sportsvereine, die kärgliche Erinnerung an Berlins einziges Konzentrationslager Columbia Haus, die «Hölle am Columbiadamm», all das macht aus dem an die 300 Hektar großen Areal nicht nur einen geschichtsträchtigen Ort, sondern auch ein städtisches Energiefeld, das zum Nachdenken einlädt.

Luxusbaugrund vs. Allgemeingut

Von «behutsamer» Bebauung sprechen die einen, von dringender Reaktion auf die steigende Wohnungsnachfrage in der ständig wachsenden Stadt, von einer «Zusammenführung» stadträumlicher Strukturen und Bezirke, «Kieze», die durch das Feld räumlich getrennt wären. Dazu noch der Deckmantel zukunftsweisender Öffentlichkeitsbeteiligung, welche in Schaucontainern mit der Beschriftung «Schaustelle Bürgerbeteiligung» versehen ist. Der Opposition der Bürger_innen-Initiative, der die Installation von derartigen Schaucontainern untersagt ist, wird unterstellt, vom Egoismus der Anrainer_innen der angrenzenden Kieze getragen zu sein, von einem Bedürfnis, sich gegen die Anforderungen der Zeit zu stellen. Ist das so?

In einer Zeit, in der sich global gesehen der Mythos vom Wachstum schon längst als eine zu vereinfachende Logik entlarvt hat, in der es darum geht, in der Wohlstandszone den Gürtel enger zu schnallen, sollen die Menschen immer noch glauben gemacht werden, dass durch die Erschließung von Luxusbaugründen (ähnlich wie etwa auf der Baumgartner Höhe in Wien) der Allgemeinheit Gutes getan würde. Man verzeihe mir die Parteiergreifung. Berlin verfügt über eine Vielzahl von Gebäuden, die durch Revitalisierung für soziale Wohnbauprojekte nutzbar gemacht werden könnten. Vom Skandal über den Berliner Flughafen gar nicht zu sprechen. Über eine Milliarde Euro soll dessen Fertigstellung mehr kosten als veranschlagt. Die Zusammenhänge können von den Leser_innen selbst hergestellt werden.

Der soziale Wohnbau ist wohl das Letzte, worum es geht. Ein Großteil der vom Berliner Senat zur Bebauung verplanten Fläche am Tempelhofer Feld soll für gewerbliche Nutzung reserviert sein. Ein weiterer Teil für Luxuswohnungen. Ein geringer Teil für leistbare Wohnungen (viele Haushalte z. B. in Friedrichshain-Kreuzberg und Neukölln verfügen über weniger als 900 Euro Nettoeinkommen). Tempelhofer Freiheit?

Vergiss die Stadt – inmitten der Stadt

Die «anderen» wollen Tempelhof zu 100 Prozent erhalten. So wie es ist. So wie es nun die längste Zeit auch war.

Verunglimpfung der Bürger_inneninitiative durch die Obrigkeiten mit plakativen Veröffentlichungen dekorieren die Auseinandersetzung. Auf «Kronen Zeitung»-Niveau wird emotionale Meinungsmache betrieben. Geduldig und beharrlich tragen ehrenamtliche Aktivist_innen mittels privater Ersparnisse und gemäßigter Selbstausbeutung die Initiative. Sie wissen: Am 25. Mai ist es vorbei. Wie auch immer, das Resultat.

Worum geht es denn nun eigentlich? Peter Sloterdijk schreibt, Städte sind Orte mit weltgeschichtlichem Pathos. Die Stadt, so Sloterdijk, sei unsere Wette darauf, dass Menschen fähig seien, die Natur zu besiegen. Wer Stadt sagt, der meine Triumph der Künstlichkeit. Villem Flusser ergänzt: Die Stadt sei kein Feld der Aktivität, sondern der Passivität. Kein Ort, an dem gehandelt wird, sondern ein Ort, an dem gelitten wird. Handeln sei eine Sache des Dorfes.

Das Tempelhofer Feld ist eine Verkörperung des Gegenteils. Es stellt die Stadt auf den Kopf. 300 Hektar Freiheit inmitten der Stadt. Wenn Mensch an einem der sechs Eingänge das Areal betritt, geschieht ein Phänomen, das man normalerweise nur von der Wüste kennt: Mensch fliegt, Mensch hebt ab.

40.000 Menschen halten sich durchschnittlich an den Wochenenden am Tempelhofer Feld auf. Es gibt Gemeinschaftsgärten. Sportliche Aktivitäten. Kindergewirr. Familientreffen. Grillerei. Biergarten. Mensch bewegt sich. Trifft aufeinander. Lacht sich an. Vergisst die Stadt, inmitten der Stadt. Reagiert auf Geschichte. Die Gärtner_innen in Tempelhof müssen die Erde herankarren, so verseucht ist der Boden vom Flugbetrieb vergangener Jahre. Nichtsdestotrotz wird gegartelt und bebaut. Es wächst. Es wuchert. Vogelarten wie Wald- und Sumpfohreulen, Bussarde und Falken, ja auch Hummel- und Bienenarten fühlen sich zu Hause. Die Feldlerchenpopulation ist sogar europarechtlich geschützt.

Im Text der Bürger_innen-Initiative 100 % Tempelhof heißt es: «Das Areal hat eine Refugialfunktion für […] Lebensgemeinschaften.» Hier ist die Sprache zu 100 Prozent treffend: Tempelhof ist ein Refugium für Menschlichkeit. Am Tempelhofer Feld trifft sich, was sich in den üblichen urbanen Begegnungsräumen nicht treffen kann: Leben trifft auf Leben. Abends teilt mensch sich den Sonnenuntergang. Die Perspektive ist himmelwärts. Offen. Mensch ist in Bewegung. Unkontrolliert. Beharrlich. Gelassen. Standhaft. Mensch.

Tempelhof sympolisiert und repräsentiert das Menschliche inmitten von Berlin. Dazu kann man gar nicht teilweise stehen. Es gilt nur eins: 100 % Tempelhof.

www.thf100.de