Scham als soziale Waffetun & lassen

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«Es ist einfach demütigend. Am Magistrat hat eine Sachbearbeiterin zu mir gesagt: ‹Warum suchen Sie sich keinen Mann, der Sie erhält?›» Das erzählte eine Betroffene, die anonym bleiben möchte. Eine aktuelle Studie zeigt, dass jede dritte Person die Mindestsicherung nicht abholt. Einer der Gründe: soziale Scham. Eine Bedrohung, die leicht in der Luft, aber schwer auf Körper und Geist liegt. Soziale Scham ist nicht bloß ein harmloses persönliches Gefühl. Beschämung ist eine soziale Waffe. Der jeweils Mächtigeren. Ich werde zum Objekt des Blickes anderer gemacht. Andere bestimmen, wie ich mich zu sehen habe. Das ist ein massiver Eingriff. Betroffene fürchten in diesen Augenblicken ihr Gesicht zu verlieren und wissen ihr Ansehen bedroht. Man möchte im Erdboden versinken. Manchmal kann man dann gar nicht mehr klar denken.
Beschämung hält Menschen klein. Sie rechtfertigt die Bloßstellung und Demütigung als von den Beschämten selbst verschuldet. Das ist das Tückische daran. Soziale Scham fordert dazu auf, eine Erklärung für den Sinn der Verletzung zu finden, die man zuvor erfahren hat. Ein Leistungsmerkmal sozialer Schutzsysteme ist, ob seine Hilfe die Menschen erreicht. Erreicht es sie nicht, weist uns das auf Fehler in Konstruktion und Vollzug hin. All das hat Folgen: Zum einen verhindert es erfolgreiche Bekämpfung von Notlagen. Zum anderen führt es zu höheren sozialen und ökonomischen Kosten, weil Gesundheitsprobleme bedrohlich wachsen, Chancen für Kinder eingeschränkt werden oder Obdachlosigkeit droht. Wäre die Inanspruchnahme «vollständig», würde die Armutsgefährdung in Österreich um fast ein Prozent sinken.
«Ich hab mir anhören können: ‹Wenn Sie nicht zufrieden sind, in Afrika wären Sie schon tot.› So wird gearbeitet. Halt ja den Mund und sei immer schön zufrieden, weil es könnte ja noch schlechter sein. Aber es ist immer alles relativ. Weil wenn ich mit Freunden fortgehe, die halt eine Vorspeise, Hauptspeise, Nachspeise im Lokal konsumieren, und ich bestell mir ein Glas Wasser, dann ist das halt dann, wie gesagt, alles relativ.»
Die Studie zeigt auch, was den Unterschied macht, also was die Inanspruchnahme erhöht: Rechtssicherheit, Verfahrensqualität, Anonymität, bürgerfreundlicher Vollzug, Verständlichkeit, Information und De-Stigmatisierung der Leistung. Die Einführung der Mindestsicherung hat zu einem deutlichen Rückgang der Nichtinanspruchnahme geführt. So haben 2009 114.000 Haushalte (51 Prozent) trotz Berechtigung Sozialhilfe nicht in Anspruch genommen. Mit Einführung der Mindestsicherung sank dieser Wert bis 2015 auf 73.000 Haushalte (30 Prozent). Mit der Entscheidung, im Armen keine verachtenswerte oder zu bemitleidende Person zu sehen, hat der Soziologe Georg Simmel zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts einen entscheidenden Fortschritt im Reden und Denken über arme Leute erzielt. ­«Jedes Verteilungssystem, das Personen voraussetzt, die als arm definiert sind, tendiert dazu, Einfluss auf die Selbstachtung und Fremdeinschätzung der abhängigen Person zu nehmen», konstatiert Wirtschaftsnobelpreisträger Amartya Sen, Ökonom und Ethiker. Wenn Gnaden- und Almosenblick beherrschend ist, verwandelt es Bürger_innen mit sozialen Rechten in bittstellende Untertanen. Die hier erwähnte Betroffene bekommt nun Mindestpension, sie muss nicht mehr zu AMS oder Sozialamt: «Dass ich jetzt nicht mehr wo hingehen muss für eine Beihilfe, für eine Unterstützung, nicht mehr betteln oder ansuchen zu müssen, das ist sehr viel wert. Das stärkt das Selbstwertgefühl unheimlich.»

Foto: Armutskonferenz