Ein megalomanisches Projekt, das nie fertiggestellt wurde: der Wr. Neustädter Kanal
Vor 200 Jahren gab es im dritten Bezirk einen Hafen, von dem ein künstlicher Wasserweg nach Wr. Neustadt führte. Heute sind die Reste des Wr. Neustädter Kanals nicht nur ein Industriedenkmal, sondern auch ein Erholungs- und Wandergebiet. Eine Erkundung von Chris Haderer (Text und Fotos).Gute 50 Jahre ist es her, seit der Buchautor Fritz Lange im dritten Bezirk eine Art «unheimliche Begegnung» hatte. Der Techniker überquerte gerade die Kreuzung Rennweg und Ungargasse, als plötzlich, wie in einem Katastrophenfilm, der Boden aufbrach. «Darunter ist der Abflusskanal des Wiener Neustädter Kanals zum Vorschein gekommen», erinnert sich Lange noch deutlich an das folgende Verkehrschaos. «Da habe ich zum ersten Mal davon erfahren, dass im dritten Bezirk einmal Schiffe gefahren sind.» Tatsächlich befand sich vor etwas mehr als 200 Jahren dort, wo heute Landstraße und Invalidenstraße sind, der Hafen des «Wiener Neustädter Schifffahrtskanals». Er war der Anfang (oder das Ende) einer künstlich angelegten Wasserstraße, die bis ans Meer nach Triest führen sollte, letztendlich aber nur ein kleines Stück über Wr. Neustadt hinaus gebaut wurde. Auf pferdegezogenen Lastkähnen, die den britischen «Narrowboats» nachempfunden waren, wurden ab Mai 1803 Ziegel, Erze und Holz, vor allem aber Kohle nach Wien transportiert.
Pannen, Pleiten und Korruption
Die Entstehungsgeschichte des Wiener Neustädter Kanals ist nicht zuletzt ein Krimi über die dunklen Seiten der Monarchie: «Tatort»-Zutaten wie Korruption, Bestechung, Betrug, Pleiten und technische Pannen überschatteten sowohl den Bau als auch den späteren Betrieb – und nach dem Ende der Lastenschifffahrt im Jahr 1879 kam es während zwei Weltkriegen auch zu erheblichen Zerstörungen an der Anlage. Bombardiert wurde er nicht zuletzt wegen der ansässigen Flugzeugindustrie: Heute ist in Wien vom Kanal nichts mehr zu sehen, er führt von Wr. Neustadt bis Biedermannsdorf, wo er in den Mödlingbach mündet. Dazwischen liegen etwa 38 Kilometer Weg mit gut 50 Schleusen, die den Höhenunterschied von 93 Metern zwischen Wien und Wr. Neustadt überbrücken – und ein Industriedenkmal, das unter anderem als Erholungs- und Fischzuchtgebiet, zur Stromerzeugung und im Wiener Raum auch zur Nutzwasserversorgung von lokalen Betrieben dient. In der Ungargasse in Wr. Neustadt erinnert noch ein Schild an den Hafen, der längst einem Park gewichen ist. In Wien sind es im Bereich der Aspanggründe im dritten Bezirk Straßennamen wie «Hafengasse» sowie diverse Ornamente auf Häusern, die auf das kaiserliche Binnenschifffahrtsprojekt hindeuten. Dorthin wurde der Hafen im Jahr 1847 verlegt, bis er den Kampf gegen die Eisenbahn endgültig verlor und vom Bahnhof der Aspangbahn verdrängt wurde – den es heute auch nicht mehr gibt.
Der Wiener Neustädter Schifffahrtskanal ist ein künstlich erbauter und maximal zehn Meter breiter Wasserweg, der keiner Quelle entspringt und daher von anderen Flüssen und Bächen aus der Umgebung gespeist werden muss. Schon am Ausgangspunkt Wiener Neustadt waren umfangreiche Vorarbeiten notwendig, um der Schwarza und anderen Flüssen Wasser zu entnehmen oder deren Wasserlauf teilweise sogar umzudirigieren, damit das Hafenbecken in der dortigen Ungargasse gefüllt werden konnte. Vom Wiener Hafen wurde das Wasser dann in den Wienfluss abgeleitet. Heute entspringt der Kanal dem Kehrbach, von dem er in einem Becken der EVN abgetrennt wird, bevor er die Goethegasse kreuzt und in die Breite geht und Richtung Wien fließt. Vom ursprünglichen Plan des Kaisers, mit dem Kanal eine Brücke zur Adria zu schlagen und ihn bis nach Triest weiterzuführen, ist nichts übriggeblieben: Die dazu nötige Errichtung von fast 800 Schleusenanlagen und riesigen Wassersammelbecken sowie eine prognostizierte Bauzeit von annähernd 80 Jahren überstiegen die Möglichkeiten der Monarchie bei Weitem.
Die Eröffnung des Wiener Neustädter Kanals im Jahr 1803 war für die Wiener_innen ein Volksfest. Ein Jahr später verkehrten bereits 55 von Pferden gezogene Lastkähne am Kanal, die etwa 42.000 Tonnen Material transportierten. Die Lösung war für das von Kriegen sowie politischen und gesellschaftlichen Umbrüchen gebeutelte Kaiserreich Österreich dringend notwendig, um den steigenden Energiebedarf der im Entstehen begriffenen Industrie im Süden Wiens zu decken. Dort sollte der Verlust der schlesischen Industriegebiete im Siebenjährigen Krieg kompensiert werden. Das und die Interessen der Wiener Neustädter Steinkohlegewerkschaft führten schließlich zum Kanalbauprojekt, mit dem die erfolgreichen Vorbilder in England und Frankreich kopiert werden sollten.
Weg nach Wiener Neustadt
Heute wird der Wiener Neustädter Kanal über weite Strecken von Radwegen begleitet, und wer auch mit einem Treppelweg oder einer Uferböschung zufrieden ist, kann zu Fuß nach Wiener Neustadt gehen. Der Kanal schmeichelt sich ein bisschen durch die Landschaft, umfährt quasi die Orte im Süden von Wien und folgt im Wesentlichen der Südbahnstrecke. Kleine Aquädukte überbrücken andere Flüsse, und bei Leobersdorf gibt es dann eine Stelle, an der sich der Wiener Neustädter Kanal und die Südbahn fast berühren. Ein Stück verlaufen die beiden einmal konkurrierenden Verkehrsmittel parallel, vorbei an den Schönauer Pferdekoppeln und Jagdrevieren, der Dornauer Mühle und den Sollenauer Schotterteichen. Was heute als Wanderausflug lange vorgeplant wird, gehörte früher zum Alltag, und meistens waren die Füße die schnellste Verbindung zwischen zwei Orten. Entlang des Kanals soll auch Beethoven von Baden nach Wiener Neustadt marschiert sein, eine knapp 25 Kilometer lange Strecke. Als er einigermaßen staubig ankam, erlebte er eine Überraschung: Da er «vom Weg durch das Steinfeld verschmutzt war, wurde er von der Wiener Neustädter Polizei für einen Landstreicher gehalten und eingesperrt», erzählt Gerhard Geissl vom Wr. Neustädter Stadtarchiv.
Der spannende Teil des Weges ist zwischen Biedermannsdorf und Leobersdorf zu finden – obwohl auch die Strecke durch das Steinfeld bei Wr. Neustadt für Überraschungen sorgen kann, beispielsweise, wenn man im Gebüsch auf eine listig versteckte Panzersperre trifft, die dem Panzergrenadierbatallion 35 der Jansa-Kaserne gehört, an der man in Großmittel bei Felixdorf vorbeikommt. Ist am Anfang der durch das Gelände führenden Straße der Schlagbaum oben, darf man passieren. Man kommt dann, zuerst etwas abseits vom Kanal, an Gebäuden und verrosteten Wachtürmen vorbei, die einen Hauch DDR nach Niederösterreich bringen. Die verfallenen Brücken machen klar, warum dieser Abschnitt des Kanals 1972 als Kulisse für Dietmar Schönherrs Regieerstling «Kain» diente. Der Wasserlauf markierte im Film die Grenze zwischen zwei verfeindeten Phantasiestaaten – und dieser Eindruck hat sich bis jetzt gehalten. Auf der einen Seite das Militärübungsgelände, auf der anderen Schotter- und Kiesgruben, ist das Stück vor Wiener Neustadt, auf dem sich Ludwig van die Füße vertreten hat, völlig charmebefreit. Hier zeigt sich die niederösterreichische Landschaft für ein paar Kilometer von ihrer langweiligsten Seite, und man freut sich schon ein bisschen auf die langsam am Horizont auftauchende Stadt.
Und damit ist die Reise von der Wiener Ungargasse zur Wiener Neustädter Ungargasse auch schon wieder zu Ende. Wenn der Wiener Neustädter Kanal auch seine industrielle Bedeutung weitgehend verloren hat – für die hunderten Enten und Gänse, die sich dort angesiedelt haben, ist er ein idealer Lebensraum und zugleich ein Beispiel für den Wandel der Zeiten und der Bedürfnisse. Letztlich ist aus dem künstlichen Industriedenkmal fast so etwas wie ein natürlicher Fluss entstanden, der in der Erinnerung schon immer da war – so wie die Triesting, die Liesing oder der Mödlingbach.
Die Radlobby Wr. Neustadt lädt am Sonntag, dem 13. August zu einer Radtour entlang des Kanals. Treffpunkt um 9 Uhr beim Bahnhof Wien Meidling: Ausgang Eichenstraße/Dörfelstraße. Ziel nach 53 km: Bahnhof Wr. Neustadt
www.radlobby.org/noe/radlobby-radtour-wiener-neustaedter-kanal