Schimmel strickenArtistin

Strickkunst für die Seele und den schlechten Geschmack

Vor mehreren Jahren haben wir an dieser Stelle Klaus Pichlers Fotoband «One Third» vorgestellt: Food Photography mit vielen Schimmelsporen. Pichlers Fotografien haben nicht nur uns, sondern auch eine Strickkünstlerin in der Schweiz inspiriert. Dominique Kähler Schweizer erzählt im Interview mit Lisa Bolyos, warum Hand­arbeit nicht zwingend mit Kunst und Kunst nicht zwingend mit gutem Geschmack zu tun hat.

Fotos: Daniel Ammann

Wie kommen Sie auf die Idee, Wurst und Käse zu stricken?

Wenn die Weihnachtsfeiertage vorbei sind und der Familienbesuch wieder weg ist, verkriechen mein Mann und ich uns daheim; wir wollen niemanden sehen, nichts tun, wir gehen nicht einmal spazieren. Wir wollen einfach nur genießen. Und zu dieser Zeit, es war im Jahr 2011, habe ich im Fernsehen einen Koch aus der Bretagne gesehen, der einen schönen Fisch zubereitet hat, eine Goldbrasse. Da habe ich beschlossen, ich stricke diesen Fisch.

Und wie ist er geworden?

Sehr gut. Also wollte ich ihn nach dem Essen machen: und habe die Gräten gestrickt. Meine erwachsenen Töchter haben das gesehen und gesagt, Mama, jetzt strickst du noch ein Huhn; sie haben gedacht: Das schafft sie nicht! Ich habe ein Huhn gestrickt. Da haben sie gar nichts mehr gesagt und ich habe weitergemacht. Einen Hummer gestrickt, einen Schweinekopf und Wurst, Kutteln und ein Herz. Gerade die Innereien finde ich interessant, denn sie zeigen wie in einer guten Metzgerei – nicht abgepackt wie im Supermarkt –, was das wirklich ist, was man da isst.

Stricken Sie auch zweidimensionale Alltagsgegenstände?

Ich habe mit acht Jahren zu stricken begonnen, ich hatte immer Freude da­ran. Ich habe Schals und Pullover gestrickt – vor Kurzem übrigens zum ersten Mal nach einer Vorlage. Dreidimensional stricke ich erst seit dem Fisch. Das unterscheidet mich von den meisten anderen Künstlern, die mit Wolle arbeiten, denn die häkeln. Damit hat man immer nur eine Masche, man sieht also das Gebilde, das entsteht. Beim Stricken ist das anders: Ich stricke flach und muss das Vertrauen haben, dass ich zu meinem dreidimensionalen Gebilde komme.

Handarbeiten ist wieder en vogue.

Ich mache keine Handarbeit, ich bin Künstlerin. Es gibt viele Frauen, die viel besser stricken als ich, regelmäßiger, das kann ich nicht. Ich mache das nach Bauchgefühl. Ich bearbeite Emotionen mit den Sachen, das unterscheidet meinen Weg vom Handwerk: Ein Handwerker kann die Sachen wiederholen, die er macht. Kunst aber ist eine Art, die Welt zu sehen. Ich sage immer, ein Künstler kann im großen Buch des Universums Ideen wahrnehmen und hat genug Demut, um zu sagen, das habe ich gesehen, und so stelle ich es dar. Ohne zu fragen, ist es schön oder hässlich, kann ich das oder nicht. Auch Michelangelo hat gesagt, der schöne David, den alle lieben, der ist nicht erfunden: «Er war da im Stein, ich habe ihn nur befreit.» Ich mache für diesen Beruf nichts, wo das Geld im Mittelpunkt steht. Ich habe Geld verdient, ich habe eine Pension, und jetzt kann ich mir das leisten. Es ist wichtig, dass die Sachen interessant sind und die Seele bewegen.

Ihr Brotberuf war die Medizin.

Mein Vater wollte, dass ich Medizin studiere. Das ist auch eine Kunst! Ich war als Psychiaterin tätig und habe als Ärztin auch viel Naturheilkunde gemacht. Bis heute betreibe ich gemeinsam mit meinem Mann eine eigene Blutegelzucht und mache Blutegeltherapien. Die Blutegel saugen das Blut und geben gleichzeitig ihren Speichel ab, das ist die Essenz der Sache. Man kann damit zum Beispiel Arthrose, Krampfadern, Blutergüsse oder Tennisarme behandeln.

Haben Sie schon mal einen Blutegel gestrickt?

Ich habe tatsächlich einen gehäkelt. Der Blutegel hat Ringe, und die sieht man mit dem Häkeln besser. Wenn ich Kurse gebe, in denen ich Ärzte und Heilpraktiker da­rin unterrichte, wie man die Blutegel setzt, zeige ich mein Modell; das ist anatomisch korrekt, so können sie von der Nähe sehen, wie die Dinge aussehen.

Die Produkte Ihrer Strickkunst sind nicht sehr schmeichelhaft. Sie stricken faulige Erdbeeren, Mülltonnen voller Essensabfälle und Menschenkopf-Mortadella.Ich zeige gerne auch ganz grässliche Sachen. Die Mortadella zum Beispiel sind Menschenköpfe von Rasern, die jung sterben. Unnötige Tote. Sie fahren viel zu gefährlich, und das ist meine Rache: Ich mache sie zu Wurst. Wenn man strickt, kann man viele Sachen sagen – es wirkt alles nicht so schlimm.

In Ihrem Buch zitieren Sie Picasso: Geschmack ist der Feind der Kreativität.

Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Kunst vor allem schön. Man wollte mit dem Anblick von Kunst die Seele erhöhen, alles werde Friede und Eierkuchen. Mit der modernen Kunst hat sich das total verändert. Sie darf schrecklich sein, wütend machen, Ekel erregen. Wenn wir etwas Fauliges sehen und Ekel empfinden, ist das gut, es ist ein Schutz, den wir da erfahren. Kunst ist nicht nur dazu da, schöne Gefühle hervorzurufen. Wenn ich etwas produziere, ist da ein Druck in mir; ich muss das machen, weil es mich bewegt. Auch wenn es ästhetisch betrachtet nicht dem guten Geschmack entspricht.


Auch im öffentlichen Raum wird wieder viel gestrickt. Wird dadurch eine typische Frauenarbeit politisiert oder ist es eher ein Zurück zum Biedermeier?

Das hat mehrere Aspekte. Wenn Frauen für bestimmte Anlässe draußen stricken, stricken sie oft zusammen. In Basel zum Beispiel wurde auf der Wettsteinbrücke das ganze Geländer verstrickt und das Dach der Fähre gleich dazu. Das war erstens sehr schön, und zweitens haben das viele Frauen zusammen gemacht, darunter auch ältere Frauen, die sehr gut stricken und die vorher vielleicht ein bisschen isoliert waren. Das ist das eine Ziel des Strickens: zusammenkommen. Andererseits soll man auch die Tätigkeit des Strickens nicht unterschätzen: Sie ist meditativ, psychotherapeutisch sehr wertvoll, denn wenn Sie stricken, machen Sie immer die gleiche Bewegung symmetrisch, und Sie helfen damit den beiden Gehirnhälften, sich zu verbinden. Vor allem nach einem Trauma kommen Sie damit wieder ins Gleichgewicht.

Ist das Stricken neben der Kunst auch eine Form der Meditation für Sie?

Ich bin nicht sehr geduldig, ich hasse warten, und mit dem Stricken kann ich mich beruhigen und stabilisieren, ich stricke überall.

Viele Frauen kritisieren mich, ich sollte besser Socken stricken, ich vergeude so viel Wolle, das sei unnötig. Aber man sagt doch auch nicht, dass ein Maler Leinwand vergeudet! Dabei gibt es genug Maler, die katastrophal malen. Ich will etwas stricken, das unnötig ist. Oder soll ich etwa Schals und Kappen für die Armen stricken? Ich finde das herablassend. Bei uns in der Schweiz gibt es diese Tradition, Pullover an die «armen Frauen von Weißrussland» zu schicken, aber erstens sind die Leute vielleicht arm, aber stolz, und ich glaube nicht, dass sie große Freude an den Schweizer Pullovern haben. Noch dazu gehören die Weißrussinnen zu den besten Strickerinnen der Welt. Und am Ende denke ich mir, wenn ich ein Auge stricken kann und es um zweitausend Euro verkaufen, und ein paar Socken verkaufen wir um zwanzig Euro – also fast der gleiche Aufwand, aber hundertmal billiger –, was würden sie an meiner Stelle stricken?

Das Auge gibt es wirklich?

Der Präsident der Augenärzte der Schweiz hat es von mir gekauft.

 

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Daniel Ammann.

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