Schlaflos im BezirkArtistin

Die Serie «Time Lapse» von Xan Padrón zeigt Menschen in aller Welt – unter anderem in Brooklyn. Martin Rausch (unten rechts) vor seiner Schaufenstergalerie in der Leopoldstadt (Foto: © Carolina Frank)

Die Wiener Leopoldstadt ist offiziell mit dem New Yorker Brooklyn verbandelt. Das Kulturprojekt No Sleep Till Leopoldstadt will mehr aus dieser Verbindung machen – aber von unten.

Menschen, die an einer Mauer ­vorbeigehen. Sie schauen nicht in die Kamera, gehen ihres Wegs. Haben Kopfhörer auf, einen Hund an der Leine, wirken nachdenklich oder dynamisch. Lange Haare, kurze Haare, Kapperl, Kopftuch. Alle sehen verschieden aus, dennoch wirken sie verbunden. Menschen in ­einer Stadt.
Zu sehen sind sie auf großen Fotodrucken, die auf die Scheiben leerstehender Geschäftslokale in der Unteren Augartenstraße 5 ­kaschiert sind. Seit 2011 fotografiert der spanische Künstler Xan Padrón für ­seine Serie Time Lapse (dt.: Zeitraffer) «menschliche Portraits von Städten und Grätzeln rund um die Welt». Hier in der Leo­poldstadt – so der offizielle Name des zweiten Wiener Gemeindebezirks, inoffiziell gerne Mazzesinsel – hatte er auch seine Kamera aufgestellt. Und auch aus Brooklyn sind solche Fotos auf den Wiener Schaufenstern zu sehen. Sie zeigen die große Diversität der Menschen, die sich in diesen beiden Stadtteilen bewegen.
Martin Rausch hat Xan Padrón über Instagram entdeckt und eingeladen, eine Auswahl der Serie hier zu zeigen. Denn die ist perfekt als Auftakt für das Projekt No Sleep Till Leopoldstadt: eine selbstorganisierte Plattform für kulturellen Austausch zwischen Akteur:innen der beiden Stadtteile, zwischen denen Länder, ein Ozean und rund 6.800 Kilometer liegen.

Bund fürs Leben

Martin Rausch ist selbstständiger Grafiker und Art Direc­tor, betreibt nebenbei ein Musiklabel, organsiert ein kleines Festival und lebt im Zweiten. Vor rund zehn Jahren, so erzählt er, las er zufällig in der Bezirkszeitung, dass die Leo­poldstadt einen Partner:innenbezirk hat: Brooklyn. «Niemand weiß das», sagt er im Gespräch mit dem Augustin. Er fand, man müsse etwas daraus machen. Schnell fiel ihm der Slogan des Projekts ein, den er von «No Sleep Till Brooklyn», einem Song der New Yorker Hip-Hopper ­Beastie Boys, adaptierte. Das schien passend, weil auch im zweiten Bezirk in Wien Nachtschwärmer:innen erst am Morgen aus den diversen Clubs wanken. Und hier leben ebenfalls Künstler:innen und andere Menschen, die die ­Nächte durcharbeiten.
Die erste Aktion war, T-Shirts mit dem Slogan zu drucken und an Freund:innen zu verschenken. Später gründete er den gleichnamigen Kulturverein zusammen mit Franziska ­Teixeira da Costa, dann kam noch Laurenz Forsthuber dazu.
Ein Brooklyn-Leopoldstadt-Festival, mit Kunst, Kuli­narik und Musik war die erste große Idee. Allein, das Geld dafür ließ sich nicht aufstellen. An Förderungen zu kommen war bislang nicht möglich. Lediglich der Bezirk, der etwa Geld für die ­aktuelle Fotoausstellung gab, ist finanziell engagiert, aber für größere Sprünge reicht das nicht, sagt Rausch.
12 der 23 Wiener Gemeindebezirke haben Partner:innenbezirke, manche sogar mehrere. Die Mazzesinsel ist seit Kurzem auch mit dem zweiten ­Bezirk von Budapest verbandelt. Derzeit ist das aber vor allem eine Geste der Freund:innenschaft, konkrete Austauschprojekte mit Brooklyn oder Budapest, die von offizieller Seite initiiert werden, gibt es gerade nicht, wie die Bezirksvorstehung auf Anfrage mitteilt. Bezirkspartner:innenschaften sind nämlich kein Muss, sondern entstehen auf Eigeninitiative von Politiker:innen.
Den Bund mit Brooklyn schloss 2007 die damalige Wiener Vizebürgermeisterin Renate Brauner gemeinsam mit dem dortigen Vorsteher Marty ­Markowitz. Kultur- und Schulaustausch war geplant sowie ein Fokus auf die jüdische Community, die in beiden Stadtteilen eine große Rolle spielt. «Brooklyn und die Leopoldstadt haben vieles gemeinsam – sie liegen beide am Wasser, vereinen ­viele Menschen aus unterschiedlichen Kulturen und verfügen mit dem Prater und Coney Island auch über weltberühmte Vergnügungsparks», wird Brauner in einer Presseaussendung von 2008 anlässlich der Eröffnung ­einer Ausstellung im Wiener Theater Hamakom des Brooklyner Künstlers Hank Blaustein zitiert.
Auch Martin Rausch, der Brooklyn von Reisen kennt, sieht viele Gemeinsamkeiten, etwa die kulturelle Vielfalt, zum Beispiel die jüdischen Communities. Die ist in Brooklyn natürlich größer – wie der gesamte Bezirk: rund 2,7 Millionen Einwohner:innen versus 108.000.

Charme oder Aufwertung?

Diese Vielfalt ist, was auch die New Yorkerin Arianna Alfreds an beiden Bezirken schätzt. Sie studierte Bildende Kunst in Wien, lebte dann einige Jahre in Brooklyn und wohnt nun wieder in der österreichischen Hauptstadt – im Zweiten. «Dass es so ein großes Spektrum gibt, das liebe ich an Brooklyn. Es gibt die Atlantikküste, es gibt Downtown Brooklyn mit den Hochhäusern und schicken Geschäften, dann gibt es die old school Künstler:innenregionen, die jetzt leider zum Teil zu Hipster-Regionen geworden sind, wie Teile von Williamsburg, wo auch orthodoxe Jüd:innen leben. Es gibt so viele verschiedene Vibes, Gegenden und Menschen.» Auch dass Brooklyn im Vergleich zu den Hochhausschluchten in Manhattan weitläufiger ist, gefällt ihr. All das findet Alfreds mit dem zweiten Bezirk relativ vergleichbar. «Für Wiens Verhältnisse ist die Leopoldstadt einer der diversesten Bezirke, meiner Meinung nach. Sehr gemischte Viertel, das jüdische Viertel, die großen Parks. Und es ist noch relativ günstig zum Wohnen, auch wenn vieles schon teurer geworden ist.»
Dass die Gentrifizierung vom großen Flächenbezirk des Big Apple und dem Wiener Zweiten voranschreitet, bemerkt auch Rausch. Direkt vor seinen Schaufenstern lärmt eine Baustelle, Fahrbahnsanierung, ­Straßenbegrünung. Das trägt zur «Aufwertung» bei, bislang ist aber noch wenig Chic im Grätzel . Das Haus, dessen Fassade bespielt wird, steht seit Jahren leer, reingehen dürfe aus Gefahrengründen niemand, wie die Besitzer:innen sagen, so Rausch. Die Umgebung wartet mit abgerocktem Charme auf. Ein Ort, an dem auch Künstler:innen ihre Ateliers haben. Der Kulturverein wirkt als Eisbrecher: «Ich lerne das Grätzel und die Künstler:innen kennen.»

Keine Eile

No Sleep Till Leopolstadt will als Vernetzungsplattform für die lokale Szene wachsen, für das nächste Projekt gibt einen Open Call. Zusätzlich soll es Ausstellungen von Künstler:innen aus der Leopoldstadt im neuen Studio geben – ein Raum in der Nähe, den Rausch renoviert hat. Gern ­würde der Verein auch ein Residency-Programm starten, um Kulturschaffende aus Brooklyn einzuladen, die temporär hier wohnen und arbeiten. ­Dafür fehlt das Geld zwar noch, aber für Rausch ist langer Atem kein Hindernis. «Ich mache das alles ohne Eile», sagt er.

www.brooklyn1020.at

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