Schleichende Veränderungenvorstadt

Lokalaugenschein im «eher schlechtgeredeten» Böhmischen Prater

Totgesagte leben länger: In den Böhmischen Prater verirren sich neuerdings sogar Tourist_innen. Chris Haderer (Text und Fotos) besuchte den kleinen und unterschätzten Bruder des weltberühmten Wurstelpraters.

So wie früher ist es nicht mehr. Die Uhren im Böhmischen Prater mögen vielleicht um ein paar Jahre zurückgehen, stehengeblieben sind sie aber nicht. Beim kleinen Bruder des großen Wurstelpraters, der eigentlich gar kein so naher Verwandter ist, sondern einer ganz anderen Ahnenlinie entspringt, halten Veränderungen schleichend Einzug. Die meisten der Attraktionen sind über 100 Jahre alt und lassen nostalgische Gefühle aufkommen, an das Ringelspiel der Kindheit, das in der modernen Unterhaltungswelt mittlerweile ein Dasein als Mauerblümchen fristet. Autodrom, Mini-Golf, Märchenbahn, Kinderkarussell, Süße Tram, alles reiht sich nahtlos aneinander, wie die Bilder auf alten Ansichtskarten. Neu hingegen ist, dass das Veranstaltungszentrum Tivoli, der Mittelpunkt des Böhmischen Praters, neue Besitzer bekommen hat. Und auch das legendäre Pferdekarussell, das als einzige Attraktion unter Denkmalschutz steht, hat kürzlich den Betreiber gewechselt: Karl Mayer, seit 1952 als Schausteller im Böhmischen Prater ansässig, ist in Pension gegangen und hat seine Pferde verkauft. «Weil es in der Familie keinen Nachfolger für das Geschäft gibt», sagt Mayer. Auf den Holzpferden, die Einzelstücke sind und so klingende Namen wie Gitti, Norbert und Hans haben, soll sich angeblich schon Kaiser Franz Josef vergnügt haben. Stillstehen werden sie auch in Zukunft nicht, weil der neue Besitzer den Betrieb weiterführen will – und nicht zuletzt sei es laut Mayer auch das älteste Ringelspiel in Europa. Ein Teil der schleichenden Veränderung: «Es gibt immer weniger Originale unter den Schaustellern im Böhmischen Prater», meint Karl Mayer. Ein Generations-Problem: Die alten Betreiber gehen in Pension oder «sterben weg, und die Jungen wollen das Geschäft nicht weiterführen». Er selbst wurde «gezwungenermaßen» zum Schausteller, weil er das Geschäft von den Eltern übernommen hat. «Mit zehn Jahren habe ich schon angefangen, beim kleinen Ringelspiel zu kassieren. Man wächst da hinein, und es macht Spaß. Im Winter wird es natürlich fad, und man freut sich wieder auf das Publikum.

Schönwetter-Prophezeiung

Ein sonniger Samstag, kurz vor zehn Uhr. Die Straße, an der die Attraktionen des Böhmischen Praters angesiedelt sind, ist nicht einmal 500 Meter lang und bis auf ein paar Spaziergänger_innen und Jogger_innen fast leer. Am Pferdekarussell trabt ein Hängebauchschwein vorbei: die Rosi, die beim für seine Stelzen bekannten Werkelmann wohnt und auf dem Heimweg zu ihrem Ferdinand ist. Im kleinen Schanigarten neben dem Riesenrad schwitzt Franz Reinhardt unter einem Schirm. «Heute sind wir alleine», prophezeit er: «Bei schönem Wetter gehen die Leute lieber baden. Wenn es regnet, kommen sie allerdings auch nicht, weil der Böhmische Prater mit öffentlichen Verkehrsmitteln ein wenig umständlich zu erreichen ist. Darum verirren sich Touristen auch eher selten auf diesen Teil des Laaer Bergs – außer «sie fahren falsch von der Autobahn ab und suchen dann den großen Prater», sagt Reinhardt. «Aber die meisten bleiben dann da, weil es ihnen hier auch gefällt. Franz Reinhardt ist Obmann des Clubs der Unternehmer im Böhmischen Prater und seit dreißig Jahren am Laaer Berg. «Der Reiz des Böhmischen Praters ist, dass wir ein Familienprater sind, die Attraktionen sind in erster Linie für Kinder gedacht. Außerdem kann man am Laaer Berg auch spazieren gehen. Da haben sie eine Kombination aus Kultur und Vergnügen». Dass es dem Böhmischen Prater schlecht geht, glaubt er nicht, seine Situation werde eher schlechtgeredet. «Wochentags ist es bei uns immer sehr ruhig, aus mehreren Gründen», erläutert Reinhardt. «Erstens haben die Leute weniger Geld, dadurch gehen sie generell seltener in den Prater. Zweitens haben die Kinder durch die Ganztagsschulen und Pflichtkindergärten weniger Zeit, um zu uns zu kommen. Es ist nicht mehr so wie früher, dass sich die Großeltern um die Kinder kümmern und mit ihnen Ausflüge machen.»

Das Geschäft sei eben ein ewiges Auf-und-ab, sagt auch Karl Mayer. «In den 50er- und 60er-Jahren ist es super gegangen», erinnert er sich. «In den 70er-Jahren hat es dann stark nachgelassen, da war unter der Woche fast alles zu. In den 80ern ist es wieder bergauf gegangen. Da wurde das Pferdekarussell unter Denkmalschutz gestellt, und das war natürlich eine Riesenwerbung für uns. Das Fernsehen ist gekommen, Klaus Maria Brandauer hat eine Schnitzler-Verfilmung hier gedreht. Einmal geht das Geschäft eben besser, einmal schlechter.» Sowohl die Schausteller im Böhmischen Prater wie auch die Wirten leben sehr viel von Stammgästen – wie der Werkelmann. «Das Gasthaus gibt es schon seit über 100 Jahren», erzählt Betreiber Wolfgang Geissler. «Es wurde ursprünglich von meiner Großmutter geführt. Ich bin bereits die vierte Generation im Werkelmann.» Aus seiner Sicht hat sich in den letzten Jahren im Böhmischen Prater nicht allzu viel verändert: «Die Ringelspiele sind etwas moderner geworden, und es verirren sich in letzter Zeit auch mehr Touristen hierher.» Früher war der Böhmische Prater sozusagen ein Prater der Wiener, jetzt kommen auch andere Besucher_innen, die das verborgene Wien neu erkunden. Und wegen der Wurzeln des Böhmischen Praters gibt es am Sonntag im Werkelmann böhmische Blasmusik zu hören. Wolfgang Geissler betreibt auch ein privates Orgelmuseum, das nach Vereinbarung besichtigt werden kann – und auch die große Karussellorgel, die den stilsicheren Soundtrack zum Ringelspiel liefert. Sie wurde 1913 erbaut und entspricht einer Orchesterkapazität von etwa 25 Musiker_innen. Wem das an Klang noch nicht reicht: Einmal mit Monat gastiert die Blasmusik Bohemia beim Spenglerwirt gegenüber vom Werkelmann. Im Böhmischen Prater ist alles irgendwie gegenüber.

Das erste Ausflugsgasthaus

Die Gastronomie ist ein wichtiger Aspekt im Böhmischen Prater – und sie war nicht zuletzt auch Schuld an seiner Entstehung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde aus der Werkskantine der Wiener Ziegelwerke das erste Ausflugsgasthaus am Laaer Berg. 1882 durfte der Wirt Franz Bauer neben dem Gasthaus auch eine Schaukel und ein Ringelspiel aufstellen, was großen Anklang fand. 1884 gab es am Laaer Berg bereits mehr als 20 Gaststätten, und auch immer mehr Schauspieler ließen sich in der Gegend nieder. Da die im Volksmund «Ziaglbehm» genannten Arbeiter der Ziegelwerke so wie auch die ersten Schaustellerfamilien vorwiegend aus Böhmen und Mähren stammten, wurde der Vergnügungspark Böhmischer Prater genannt. Im Dezember 1944 wurde der Böhmische Prater durch Bombenangriffe fast vollständig zerstört. Ein paar versteckte Zeitzeugen haben die Jahre überdauert, wie der abgeworfene Benzintank eines amerikanischen Jagdflugzeuges, den man in der Nähe der großen Karussellorgel der Familie Geissler findet. «Nach dem Krieg lag alles in Trümmern, und die Pferde sind bis zum Hals im Schnee gestanden», erinnert sich Karl Mayer. Alles wurde wieder aufgebaut, und über die Jahre sind ein paar neue Attraktionen dazugekommen, wie beispielsweise das Riesenrad von Franz Reinhardt, das den Vergleich mit dem großen Riesenrad im Wurstelprater nicht scheuen muss: In der obersten Gondel ist man «20 Meter über dem Stephansdom und hat eine phantastische Aussicht auf Wien». Oder prosaisch ausgedrückt: Dem kleinen Prater am Laaer Berg liegt die ganze Welt zu Füßen.