Seit über zwanzig Jahren lässt das Stimmgewitter Augustin die Herzen der Fangemeinde höherschlagen. Beim langsamen Abschied sagen die Singsüchtigen laut Servus, dokumentiert auf der nagelneuen Platte unter dem vielsagenden Titel Die Reste gibt’s zum Schluss.
TEXT: ANDREAS FELLINGER
«Singen ist ja gut für die Seele.» Hömal – er wird hier, wie alle Mitwirkenden, beim Vor- bzw. Kosenamen genannt – bringt die Qualität des Stimmgewitters auf den Punkt. Zusatz: «Außerdem sind sie mir alle nicht besonders unsympathisch.» Understatement kommt als zweiter Pluspunkt ins Zeugnis des Vokalensembles, das einmal jemand als «die älteste Punkband der Welt» bezeichnete, «immerhin hat sie 470 Jahre auf dem Buckel». Das ist auch schon eine Zeitlang her. «Leider werden wir immer weniger», meint Hömal mit einem sanften Seufzer und spielt damit darauf an, dass schon viel zu viele tragende Säulen der solidarischen Singgruppe zu leben aufgehört haben. «Wir werden auch älter, haben unsere Wehwehchen. Aber wir sehen uns immer noch alle gern, wir sind eine schöne Gemeinschaft.» Zum Singen, zum Reden, zum Diskutieren, hin und wieder auch zum Streiten. Zum liebevollen Streiten, wohlgemerkt. «Streitereien», sagt Ernstl, «haben uns nie auseinandergebracht, sondern immer noch mehr zusammengeschweißt.»
Statement & Understatement.
Die Startlöcher des singenden Augustin-Kollektivs sieht man vielleicht heute noch im damaligen Uhudla-Büro in der Phorusgasse, also dort, wo der Augustin-Mitbegründer Max Wachter die «älteste und rebellischste Straßenzeitung Österreichs» produzierte. Zuvor, wir schreiben das Jahr 2000, fassten Riki und Mario am Volksstimmefest – «schon etwas beschwipst», wie Riki sich dunkel erinnert – nach dem gemeinsamen Absingen von Schlagern und Revolutionsliedern den Entschluss, einen Chor ins Leben zu rufen. Gedacht, gemerkt, getan. Die Chor-Idee wurde plakatiert, mit der einzigen Vorgabe, dass die Aspirant:innen den Augustin auf der Straße verkaufen. Dieses konkrete Naheverhältnis war Bedingung. Und siehe da: In kürzester Zeit hatten sich gut dreißig Singwillige eingefunden. «Höchstwahrscheinlich auch deswegen», spekuliert Riki, «weil es für alle zwei Gratisgetränke gab.»
Die Hälfte davon brach dann bald einmal weg, mit den verbliebenen rund 15 Sänger:innen – außer Riki und Heidi ausschließlich Männer – wurde anfangs einmal pro Woche in diversen Wirtshäusern gesungen. Der Sozialarbeiter Andi Schmid hatte, einer ominösen Eingebung folgend, für den Augustin-Chor den Namen Stimmgewitter erfunden. Und dann sponserte aus heiterem bis wolkigem Himmel ausgerechnet die Karajan-Stiftung dem Chor 3.000 Schilling. Ein warmer Regen für die Singsüchtigen (© Mario), die alle keine Noten lesen können, Instrumente spielen sowieso nicht. Sie hatten immer schon, sagen sie einstimmig, viele Stimmen, mehrstimmig gesungen haben sie aber nie. Mit einer Ausnahme: «Ich singe dreistimmig», sagt Maria, das sogenannte Nesthäkchen der Band, «laut, falsch und mit Begeisterung!» Sie sei freilich schon lange Zeit vor ihrem Beitritt Fan gewesen, schließlich sang ihr Mann, den sie Käptn Bumba nannten, von Anfang an mit. Dann stieg sie selber ein. «Weil ich eine Schönheit bin!» Statement, Understatement. Sprüche, Widersprüche. Das richtige Leben eben.
Freibeuter der Chöre.
Niemand verschwendete damals einen Gedanken daran, dass es jemals über ein Spaßprojekt hinausgehen werde, erinnert sich Mario. Bis die Einladung der Jugendlichen vom Lions Club ins Haus schneite. Daraus sollte die erste Stimmgewitter-CD resultieren: Stimmgewitter & Friends mit namhaften Gästen, die man sich nicht vorschreiben, sondern ausdrücklich selber aussuchen wollte: Hansi Lang, Roland Neuwirth, das Kollegium Kalksburg, Wilfried, Die Strottern und und und. David Müller von Die Strottern bewerkstelligte die Aufnahme, die Live-Präsentation der Debüt-CD geschah dann in einem bummvollen Metropol. Die Einnahmen der Veranstaltung flossen zur Gänze ans Grazer Vinzidorf, entsprechend ging das erste Stimmgewitter-Auswärtsspiel in der Mur-Metropole über die Bühne. Der erste große Schritt in die Öffentlichkeit war gemacht. Räume in der Metropol-Dimension wurden künftig freilich abwegig. Nicht umsonst verfügt der Chor einer Straßenzeitung über jede Menge «street credibility», also über die Anerkennung von unten. Anderes wurde auch nie angestrebt, macht Mario klar. «Freibeuter der Chöre» nannte Hömal einmal den lustvoll-anarchischen Gesangsverein. Und aus der Einladung zum sogenannten Spendenparlament – «obwohl wir da zu Pausenclowns degradiert wurden», erinnert sich Mario – resultierte überraschenderweise die Finanzierung des zweiten Tonträgers. Kitsch & Revo: eine späte Widmung an das folgenschwere erste Treffen der beiden Chor-Motoren am Volksstimmefest.
Halt dich an deiner Liebe fest.
Vor allem in den Anfangsjahren äußerten sich Teile des Publikums belustigt bis irritiert. «Einige kamen zum Sandlerschauen», erzählt Mario. «Das hat uns aber nix ausgemacht», sagen die anderen, «wir nehmen uns eh selber nicht ernst.» Mit zunehmender Öffentlichkeitswirksamkeit wuchs auch der Respekt vor den Akteur:innen. Nur die Medienberichterstattung lasse bis heute zu wünschen übrig. «Wir haben uns aber auch nirgends angedient.» Kaum jemand, abgesehen von Straßen- und Nischenmagazinen, habe sich ernsthaft mit dem Stimmgewitter beschäftigt. Für eine Erklärung dafür tappen sie im Dunkeln. «Vielleicht sind wir ihnen zu sehr Freaks», wird gemutmaßt, oder halt zu wenig stromlinienförmig. Dabei habe es, meint Mario, «so einen Bastard wie das Stimmgewitter noch nie gegeben». Auch merkwürdig, ergänzt Riki, «dass uns soziale Institutionen so selten engagiert haben, und wenn doch einmal, dann mit auffallender Respektlosigkeit».
Ganz im Gegensatz zu den Stimmgewitter-Gästen, wie unisono mit Nachdruck betont wird. Wobei die Grenzen zwischen Gästen und Coverversionen bis zur Ununterscheidbarkeit verschwimmen: Angefangen von den All Time Heroes Hansi Lang und Rio Reiser über Texta, Bernadette La Hengst und Die Strottern bis zum Kollegium Kalksburg, Bo Candy & His Broken Hearts und weit darüber hinaus. Da kämen wir vom Hundertsten ins Tausendste. Wobei sowohl die Coverversion von Georg Danzers «Geh in Oasch» als auch jene von Rio Reiser bzw. der Band Ton Steine Scherben für das gesamte Stimmgewitter-Experiment stehen könnten: «Halt dich an deiner Liebe fest!»
«Sie singen», so schrieb einmal das Musikmagazin freiStil, «wie ihnen der Schnabel gewachsen ist – und so ein Schnabel weist halt gewisse Krümmungen auf. Das bringt Leben in den Gesangsverein. Und wenn wir dann auch noch die Zusammenarbeit des Stimmgewitters mit der Linzer Punkband Seven Sioux aus dem Hinterkopf schälen, kommen wir schnell zur Laudatio: Stimmgewitter Augustin – Das ist Hard-Chor!» Sänger von Seven Sioux war (und ist fallweise noch) Rainer Krispel. Ja, genau der, der Augustin-Leser:innen seit etlichen Jährchen als schreibender Musikarbeiter bekannt ist – mit Mario, dem Stimmgewitter-Gründungsmitglied, als fotografierendem Partner. Aus der Kooperation mit Seven Sioux folgte auch der wohl knackigste, beliebteste Smash-Hit des Stimmgewitters, nachzuhören auf ihrer vierten, gleichnamigen Platte, und auch er könnte locker als Motto fürs ganze Gesangsensemble stehen: «Schmankerl der Schöpfung».
Solidaritätslied.
Gäste waren von Beginn an unerlässlich, «weil wir ja keine eigenen Lieder hatten», sagt Mario. Deswegen wurden Songs ausgesucht und die Leute dahinter um Mitwirkung angefragt, darunter Texta und die damals noch kaum bekannten Ja, Panik. Allein für ihre vierte CD mit den Seemannsliedern auf Übers Meer reicht die Gästeliste von First Fatal Kiss und Bulbul über Valina, Texta und Killed By 9V Batteries bis zu Die Sterne und eben Ja, Panik. Und so weiter, und so fort. Auch nicht von schlechten Eltern: Auf der zweiten CD Kitsch & Revo finden sich gleich zwei Mal Hanns Eisler/Bertolt Brecht: einmal im «Einheitsfrontlied», gegeben von Texta, und einmal im «Solidaritätslied» in einem Remix von Schorsch Kamerun, dem singenden Paradiesvogel der Goldenen Zitronen. Der Refrain des zweiten Lieds kann als dritte Variante eines Mottos fürs Stimmgewitter herhalten: «Vorwärts, und nicht vergessen / worin unsre Stärke besteht / beim Hungern und beim Essen / Vorwärts, nie vergessen / die Solidarität!»
Angesichts der Auswahl von Songs und Gästen erübrigt sich wohl die Frage nach der politischen Ausrichtung des Stimmgewitters. «Hier singen ausschließlich Leute vom Augustin», sagt Riki, «insofern ist es politisch. Es ging uns von Anfang an darum, Spaß an der Sache zu haben und mit unterschiedlichen Leuten auf unterschiedlichen Bühnen zu singen.» Zudem sei es nie im Leben darauf angekommen, ob jemand singen könne oder nicht. Einziger Wermutstropfen im Glas der Erkenntnis: «Wir waren einmal ein richtiges Stimmgewitter, jetzt sind wir nur mehr zu fünft.» Zu welcher hinreißenden Ausstrahlung sie selbst in der personell reduzierten Version fähig sind, konnte das, wer wollte, beim Augustin-Fest «25+1» voriges Jahr in der Arena bezeugen.
Heim- und Auswärtsspiele.
Einen besonders nachhaltigen Eindruck haben, neben den Heimspielen bei Augustin-Hoffesten, die Auswärtsspiele hinterlassen: in Hamburg, in der Wabe Berlin (gemeinsam mit der Bolschewistischen Kurkapelle Schwarz-Rot), die Auftritte beim Opferball, der Gegenveranstaltung des Augustin zum Opernball, im Walfisch in Freiburg, in der Linzer Kapu, als Support von Jello Biafra und von NoMeansNo in der Arena. «Die Höhepunkte unserer Karriere», fasst Hömal kurz und bündig zusammen, «waren die Auftritte und der Applaus.» Als persönliches Highlight formuliert Riki «die so lange andauernden Freundschaften. Und übrigens auch die Disziplin», die für einen Straßenchor, der sich zum Teil aus (ehemals) Obdachlosen rekrutiert, unüblich sei. Eine Disziplin, die sie auch an der Redaktion und der Sozialarbeit des Augustin besonders schätze. Und natürlich das Singen als soziale Komponente, «als Auffangnetz fürs turbulente Tagesgeschäft».
Als weiteres Plus zu den bereits genannten und den noch ungenannten zählt Riki die Bühnenerscheinung des Stimmgewitters. «Anfangs sind wir alle in Straßenkleidung aufgetreten. Damit waren wir unzufrieden, also sind wir dann kollektiv zum Anzug-Schnorren in die Gruft gegangen.» Seither seien sie auf der Bühne unübertreffbar chic.
Das neue Album ist in der Kolportage und in unserem Webshop www.augustin.or.at/shop erhältlich.
Präsentiert wird es am 16. März 2023 im TAG. Der Vorverkauf läuft bereits: www.dastag.at
Diskografie:
Stimmgewitter & Friends (2003), Kitsch & Revo (2006), Stimmgewitter & 7 Sioux (2008), Schmankerl der Schöpfung (2010), Übers Meer (2012), Stimmgewitter & Bo Candy & His Broken Hearts (2014), Es tröpföt aum Asphoit (2016), Stimmgewitter & der Schwimmer (2017), Stimmgewitter & Kollegium Kalksburg (2018), Stimmgewitter & Hirsch Fisch, Stimmgewitter & Die Strottern (2019), Liebe und Hass (2020), Die Reste gibt’s zum Schluss (2022)
Punk und Poesie
Restlverwertung ist für uns Hobbyköch:innen sowieso ein absolutes Muss! Weil wohin mit dem Zeug? Gleiches gilt für die Hobbysänger:innen vom Stimmgewitter Augustin, das wie aus dem Nichts ältere wie neuere Stücke auf die Waagschale legt. Fifty-fifty verhält sich nach eigenen Angaben die Prozentverteilung. Der Schallplatte liegt eine CD bei, die es für Plattenspielerbesitzlose auch extra zu erwerben gibt. Und sowohl das Platten- als auch das CD-Cover erstrahlen im unverwechselbar brillanten Design von Thomas «Gustl» Kriebaum. Auf beiden finden wir, chronologisch, freundschaftliche Kooperationen mit dem grundgütigen Fuzzman, mit Chris 4er Peterka, der Original Stiefelbein Bluhs-Bänd, Rewolfinger, Vincenz Wizlsperger und, eh klar, Seven Sioux. Punk und Poesie. Coverversionen der Austropop-Missjös Ambros, Brauer & Danzer runden die runden Tonträger ab. Das Runde muss ins Eckige, wie wir Hobbyfußballfans wissen. Also trifft der Augustin-Betriebschor fast immer ins Schwarze, bisweilen auch knapp daneben. Knapp daneben ist auch vorbei, und vorbei ist in absehbarer und abhörbarer Zukunft auch die gut zwanzigjährige Geschichte des Gesangvereins, der einmal ein Gewitter war und heute ein sanftes Grollen ist. Aber ärgern Sie sich nicht zu früh! Womöglich fällt den Resten zum Schluss noch ein Geniestreich ein, wie damals auf der Jesuitenwiese im Prater. Da blühen die Träume. Und falls nicht: Ein Genuss zum Schluss ist es allemal.
Andrea Sonnleitner
Stimmgewitter Augustin
Die Reste gibt’s zum Schluss (CD/LP)
konkord 2022
Preis: CD 15 Euro, LP (schwarzes Vinyl) 25 Euro, LP (limitiertes rotes Vinyl) 28 Euro