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Ein Freund erzählt mir, dass er dabei war. «Bei was?», frage ich. «Beim Terror, am Schwedenplatz», antwortet er. In einem Lokal versteckt bis in die Früh. Am Boden kauernd unter der Bar. «Ich hatte solche Angst zu sterben!» Um drei Uhr in der Früh konnte er nach Hause, aber einschlafen konnte er nicht. «Ich hab bei so einer Notnummer angerufen, die haben mit mir lange geredet. Dass ich jetzt sicher bin in der Wohnung. Das Gespräch hat mir geholfen.» «Auf die Frage ‹Wie geht’s dir?› fange ich sofort zu weinen an», schreibt die Regisseurin Elisabeth Scharang, die sich ins nächste Restaurant flüchten konnte. «Aus dem Nichts drückt eine Welle aus Schmerz in mir hoch, die mir die Stimme verschlägt. Dabei ist mir nichts passiert, ich bin nicht verletzt worden und nicht direkt bedroht.»
Und doch, es ist etwas passiert. Eine massive Verletzung. Das Vertrauen in die Welt ist angeknackst, vielleicht auch gerade verloren. Es ist schwer, dafür eine Sprache zu finden. Eine Ahnung davon, was das Gefühl, verloren zu gehen, die Welt zu verlieren, sein könnte, gibt uns Jan Philipp Reemtsma, der von Erpressern dreißig Tage in einem Keller gefangen gehalten wurde. Seine Aufzeichnungen beschreiben eine total ver-rückte Welt. «Alles ist, wie es war, nur passt es mit mir nicht mehr zusammen. Als trüge ich eine Brille, die alles einen halben Zentimeter nach links oder rechts verschiebt. Ich kann nichts mehr greifen, der Tritt fasst die Stufe nicht mehr. Oder als seien die Oberflächen der Dinge leicht gebogen, als würde nichts mehr Halt finden, das ich hinstellen möchte. Welt und ich passen nicht mehr.» Man kann seinen Schlüssel verlieren oder seine Brille, aber die Welt verlieren? Und doch: Manche Menschen haben eine Wunde zugefügt bekommen, so tief, dass die ganze Welt darin verschwindet. Wunde heißt auf Griechisch Trauma.
Ich habe zwei Jahre bei Hemayat, einem Gesundheitszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende, gearbeitet. Die Wucht der Geschichten und der Verwundungen ist eigentlich nicht auszuhalten. Eine Welt, die es gibt und bei der man zweifeln will, dass es sie geben kann.
Wenn es um schreckliche Dinge geht, schaut man einmal schnell hin, sucht den Thrill, die Angstlust. Hier geht es um Schreckliches. Tod und Verletzung. Man schaut kurz hin, so wie man es aushält. Wenn es zu arg ist, kann man auch wieder wegschauen. Diese Dinge sind «aus der Welt». Sie sind aufnehmbar, weil sie am Bildschirm in unsere Welt kommen. Wie im Film, sagten viele während der Terroranschläge. Im Film ist das Schreckliche erträglich aufgehoben. Am Allerseelentag im Wiener Bermudadreieck wurde aber nicht der Film Wirklichkeit, sondern die schreckliche Wirklichkeit konnte vom Film nicht mehr gebannt werden. So viel Realität ist real kaum zumutbar.
«Ich vermute, einer der Gründe, warum Menschen so hartnäckig an ihrem Hass festhalten, ist, weil sie spüren: Wenn der Hass einmal verschwunden ist, werden sie gezwungen sein, sich mit Schmerz zu beschäftigen», sagt Literaturnobelpreisträger James Baldwin. Das gilt für Hassprediger, aber das gilt umgekehrt auch für uns alle in anderer Form. Es ist zur Zeit keine leichte Situation. In Dauerschleife läuft ja als Hintergrundbedrohung Corona weiter, das sich wie ein ewiges Warten ohne Ziel anfühlt. Viel Erschöpfung jetzt nach so vielen Monaten. Dazu der Terroranschlag mit all seinen Wunden und all seinem Schmerz. Für autoritäre Politiken ein fatal fruchtbarer Boden. In diesen Augenblicken sind Dinge politisch durchsetzbar, die sonst bei Verstand, Abwägung und Verhältnismäßigkeit nie gingen. Weil der Schmerz so groß ist.