Schnappatmungtun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Speakers' Corner (2. August 2023)

Das Kind und ich lesen uns ein. Es sagt Ei, wenn es das Foto der Eizelle sieht, und nickt wissend, wenn ich Sperma sage. Es weiß, dass dem schnellsten Spermium beim Ins-Ei-Schlüpfen der Schwanz abbricht und sich die befruchtete Eizelle einen Landeplatz im Bauch sucht. Ich wusste erst mit 40, das Kind weiß schon mit 28 Monaten, wie ein Embryo mit noch offenem Hirn und ohne ­Gesicht aussieht. Es erkennt die Arm- und Beinknospen, das schon früh schlagende Herz. Heute Morgen, zwischen dem U-Bahn-Eingang mit Treppe und jenem mit Lift (die Welt ist nicht für Kinderwägen [und Rollstühle] gebaut), überholen wir eine Person mit Jahreskarte fürs Solarium. «Dann hast du dich mit ganz viel Kraft in die Vagina gedreht.» Das Kind lacht. «Und bist mit dem Kopf voraus aus der Vulva geschlüpft.» Es ist begeistert. Hinter uns wird auf den Boden gespuckt. Das Solarium murmelt, ja schimpft. Wenn Blicke töten könnten. Ich weiß, dass das Kind nicht weiß, was die Geste bedeutet und dass sie uns gilt.
Der einzige Mensch, der mich noch nicht gefragt hat, was es wird, ist das Kind. Wenn ich antworte, «Es hat eine Vulva», wird geschnappatmet, an guten Tagen setz ich ein «Ich kann noch nicht fragen, wie es sich selbst fühlt» drauf. Wenn es bald schlüpft und einen Penis hätte, ist «er» für immer verdammt, zu sein, was und wie ­Penisse angeblich sind, Vulven detto, so lautet das Gesetz. Jetzt müssen wir ganz stark sein, aber in hundert Jahren, eher zweihundert, lachen wir darüber. Wenn es uns noch gibt.

Hier schreiben abwechselnd Nadine Kegele, Grace Marta Latigo und Weina Zhao nichts als die Wahrheit.