Schnee von gestern & schimmelige HüteDichter Innenteil

Das große Kinderfest bei winterlichem Tauwetter auf einem abschüssigen Spielplatz ist voll in Gang. Plötzlich bemerke ich, dass mein Sohn verschwunden ist.

Als meine Blicke über das Gelände schweifen, glaube ich ihn zu erkennen, aber zweifle umgehend, weil der Bub, der auf den Schneeresten zwischen den spielenden Kindern auf Schiern abwärts fährt, beträchtlich kleiner wirkt. Am Ende des abschüssigen Spielplatzes hat sich auf dem ebenen Platz ein See aus Schmelzwasser gebildet. Ich sehe, wie der Bub, dort wo es am tiefsten ist, ins Wasser fährt, er geht sogar noch in die Hocke, sodass er voll untergeht, und als er endlich wieder auftaucht, schüttelt er lachend seine triefnassen, langen blonden Haare, lacht begeistert und meint, dass er sofort nochmals untertauchen möchte, denn das war ja so toll. Eigentlich müsste mich angesichts dieses Anblicks frösteln, aber ich bemerke in diesem Augenblick, dass es mittlerweile ziemlich warm geworden ist. Nach diesem offensichtlich glimpflichen Ausgang mache ich mich wieder auf die Suche nach meinem Sohn. Gerade als meine Beunruhigung steigt bzw. knapp davor ist, in Panik und Verzweiflung umzuschlagen, sehe ich ihn bei einem Verkaufsstand. Er erklärt mir, dass er für die Kinder seiner Onkel und Tanten Süßigkeiten kaufen will. Ich bin gerührt.

Hoch in den philippinischen Bergen sitze ich am Dach eines mit Schindeln gedeckten Tiroler Bergbauernhofes und genieße das wunderschöne Panorama. Plötzlich tauchen aus dem etwas unterhalb des Hauses liegenden Bergsee, die kräftigen Vordertatzen hoch in die Luft streckend, zwei prächtige Königstiger auf. Sie schütteln am Ufer ihre Felle aus, die Wassertropfen sprühen in den Raum und glitzern im Sonnenschein. Da bemerke ich zu meinem Entsetzen, dass sie mich entdeckt haben und gierig zu mir heraufschauen, gleichzeitig erinnere ich mich, dass Königstiger sehr gute Kletterer sind. Ich fühle mich in die Enge getrieben, sehe keine Fluchtmöglichkeit, denke auch nicht daran, sie mit den Steinen, die die Schindeln beschweren, zu vertreiben, und bekomme panische Angst.

Richtige Winter, wo die Landschaft für längere Zeit zur Gänze in weiß erstarrte

In diesem Augenblick wacht Meinrat auf, ganz profan vom nächtlichen Harndrang geweckt und ist momentan froh, so dieser Gefahr entkommen zu sein: Break on through to the other side. Einige von Meinrats Träumen blieben auch nach dem Aufwachen unglaublich präsent, und dann erforderte es für einen Augenblick volle Konzentration, um sie von der Wirklichkeit zu trennen.

Damals, als Meinrat in die Volksschule ging, gab es noch Winter, richtige, wo die Landschaft für längere Zeit zur Gänze in Weiß erstarrte und entweder wie ein kristalliner Teppich in der Sonne glitzerte oder hinter dichten Schneeflocken oder einer grauen Nebelwand verschwand. Damals gab sich der Winter erst nach einem langen Ringen geschlagen, in den schattigen Stellen hielt sich der Schnee noch lange, und wenn es tagsüber taute, so brachten die Nächte wieder Frost und die Sonne hatte es wieder mal schwerer. Jetzt kommt das «Whiteout» ohne großes Federlesens praktisch über Nacht und der Frühling hat kaum Zeit sich auszubreiten, schon wird er vom Sommer noch wärmer zugedeckt.

Der bekannte und beliebte Wintersportort ließ es sich nicht nehmen, trotz akutem Schneemangels das Weltcuprennen doch noch durchzuführen. Alle helfen mit, die letzten Schneereste zusammenzuschaufeln und diese dann am Güterweg, der sich durch die apere Schipiste schlängelte, auszubreiten. Gerade als alles fertig ist und sich alle freuen, so ein schönes weißes Band durch die braune Landschaft gezaubert zu haben, tapsen plötzlich einige Eisbären aus dem Wald, rutschen in den Spurrinnen die Strecke ab und haben sichtlich Spaß dabei.

Meinrat empfand es höchst unpassend, wenn im so kalten, frostigen Advent in der Rorate gesungen wurde: «Tauet Himmel den Gerechten, Wolken regnet ihn herab.» Tauwetter und danach Regen? Im Advent, wo der Schnee unter den festen Schuhen, die sich an der frischen Luft auch gleich in harte, klobige Klumpen verwandelten, auf den für den Kirchgang und für den Milchtransport freigeschaufelten Wegen so schön knirschte? Dann in der Kirche war es kaum wärmer als draußen, wo alle mit nebeligen Gesprächsblasen auffielen, und wenn die durch den Anmarsch gewonnene Wärme sich verflüchtigte, kroch die Kälte in alle Glieder und ließ vor allem die Zehen erstarren – da rückten alle enger zusammen.

Ein halbes Jahrhundert später können es Jugendliche kaum glauben, dass es damals am Ortsrand die Talstation nur wenig über 400 Meter Seehöhe, noch dazu sonnseitig, auf der Bichl-Wies’n, einen Schilift gegeben hat. Bevor der Lift gebaut wurde, trippelte Meinrat mit seiner Schulklasse den steilen Hang hinauf. Der Spannberger Paul fuhr dann oben einfach los – zum Erstaunen der gesamten Klasse und des Lehrers, denn sein schifahrerisches Können war bis dahin noch niemanden aufgefallen – gewann im geraden Schuss schnell eine hohe Geschwindigkeit und kam erst an den Querbrettern des Weidezauns abrupt zum Stillstand, weil er nicht abkristeln, d. h. abschwingen, konnte. Der Paul brach sich dabei das Schienbein, aber so traurig und schmerzhaft das momentan für ihn war; so blieb ihm als Trost die Bewunderung seiner Schulkollegen für seinen großen Mut.

Wochenlang Pulverschnee

Wochenlang gab es damals auch Pulverschnee, und Meinrat erinnert sich gerne an spontane Schitouren, wo er mit Freunden Routen auf den heimatlichen Hügelbergen mit steilen Wiesenhängen an den Bauernhöfen vorbei erkundete, wobei möglicherweise einige zum ersten und letzten Mal so befuhren wurden, das flaumige Weiß hochwirbelnd, hinunter an die Talsohle um die 400 Meter. Nun ist Pulverschnee selbst am Höhepunkt des Winters nur weit über 1000 Meter zu finden. Daher kann es sich nur um ein böses Gerücht handeln, Österreichs bester Schifahrer hätte diesen Sport in der niederländischen Heimat seiner Mutter, also In The Dutch Mountains, gelernt.

Die Bauern hatten in der letzten Zeit schon über die unerklärlichen Verluste von Jungtieren geklagt – wie vom Erdboden verschluckt. Unheimliche Angst breitete sich aus. Von weitem, im Anflug mit der Drohne fiel es mir schon auf: Inmitten der Felder, Wiesen und Wälder stach in einer langen Strauchreihe eine röhrenförmige Anordnung von Zweigen und Ästen auf, die auf ein ungewöhnliches Nest schließen ließ und in der ein großes, langes Tier hausen musste. Näher zoomend fand ich die Vermutung bestätigt und bemerkte weiter oben, einen Feldweg hinaufkriechend, eine Riesenschlange, ja genau, eine Anakonda, die sich offensichtlich auf Futtersuche in die umliegenden Weiden begab – mitten im Hügelland des Mostviertels. *

Und In the summer time, when I was young? Damals konnte es schon passieren, dass es auch im Sommer zwei Wochen mehr oder weniger durchregnete, empfindlich abkühlte, damit also Sommerfrische generierte und das Heu sogar auf den Schobern schimmelig wurde. Die Hüte (der Schober) waren dann nur zu retten, wenn sie beim so herbeigesehnten Schönwetter, vom Wind durchlüftet, gut trocknen konnten und sich der Schimmelgeruch dadurch halbwegs verflüchtigte.

Starkregen als Selbstverständlichkeit

Meinrat sah dann in den frühen 1990ern in den Philippinen in der Cordillera von Luzón, wie beim «Open Pit Mining» Berge in Gruben verwandelt wurden und berstende Abraumseen eine giftige Spur der Verwüstung hinterließen. In Manila, erlebte er erstmals einen Tropenregen, der so plötzlich losbrach und von dem er so übergossen wurde, als hätte man einen Kübel Wasser auf seinen Kopf geleert. Seit einigen Jahren sind solche Güsse – für die das Wort Starkregen erfunden wurde – auch im Mostviertel zur Selbstverständlichkeit geworden. Einmal wandelte sich binnen weniger als einer Stunde ein sonst still dahinfließendes Bächlein in ein reißendes Ungeheuer, das einen Parkplatz leerfegte und mehrere Autos erst 20 Kilometer weiter wieder anspülte. Ebenso neu sind die langen heißen Hitzeperioden, die in der Landwirtschaft anfangs freudig aufgenommen wurden, aber je länger sie nun dauern, desto mehr nehmen die Sorgen überhand; für diese wurde schon vor Jahren vorgesorgt: Der Volksschüler Meinrat hatte schon bedauert, dass am so kleinen Hof seiner Eltern erst spät, als bereits alle Nachbarn dies schon hinter sich hatten, in die feuchten Wiesen Drainagen gelegt wurden, damit das Wasser möglichst schnell abfließen konnte, was nun in den heißen Perioden zum Bumerang wird, weil die «Rückhaltebecken» fehlen. Bei der Gelegenheit wurden damals auch gleich kleinere Hügel eingeebnet, Strauchreihen abgeholzt und Gräben mit Aushubmaterial von großen Bauprojekten zugeschüttet. Auch der einzige Auwald weit und breit verschwand; einplaniert von einer Schubraupe. Die Entwicklung ging einher mit der Technisierung auf den Höfen, die gleich darauf abzielte, auch mit schweren Landmaschinen, ohne im Morast zu versinken oder umzukippen, möglichst alle Felder zu befahren. Wem kümmerte es aber, wenn dabei die Böden immer mehr verdichtet und für deren Lockerheit wichtige Mikroorganismen und Kleinstlebewesen vernichtet wurden? Auch am Hof von Meinrat stieg man vom Pferdefuhrwerk auf einen Traktor um – ohne sich vorher mit dem Lenkrad, der Schaltung und der Kupplung vertraut zu machen, fuhr Meinrat damit prompt gegen einen Baum, da er als Bub den 18-er Steyr selbstverständlich vor seiner fünf Jahre älteren Schwester in Betrieb nehmen musste.

Am Ende des 20. Jahrhunderts wurde Meinrat Zeuge eines einfachen Experiments, das er noch immer genau vor Augen hat: José Lutzenberger rückte am Ende seines Referats über die Zerstörung der Regenwälder einen Bleistift Stück für Stück an den Rand des Tisches, jeden Ruck näher an die Kante, kommentierend mit «Nichts passiert, also weiter», alles paletti, bis der Stift den Punkt des No Return erreichte, hoppala, und auf den Boden fiel.

Zum Jahreswechsel auf 2016 gab es am Nordpol Plusgrade, die Temperaturen liegen zu dieser Jahreszeit üblicherweise um 30 bis 50 Grad tiefer, und auch gegen Ende 2016 gab es in der Polarregion wieder um 25 Grad erhöhte Temperatur. Muss ich das verstehen? Jedenfalls hofft Meinrat darauf, dass die innovativen humanen Kräfte das Ruder noch herumreißen und die Reparatur der Erde** gelingt – falls nicht ein unflätiger Elefant im Porzellanladen herumtrampelt und den Klimawandel im neuen Jahr 2017 einfach vom Tisch wischt. Nur eines ist sicher: The Times They Are A-Changin’ – der 1964 geschriebene Text scheint aktueller denn je.

Fotos: privat


Zum Foto am Beginn der Geschichte: Wenn Meinrat das Wort Bauer – auch im Zusammenhang mit einem weiteren Substantiv – in einem abfälligen Tonfall hörte, konnte er seinen Ärger oft nicht zurückhalten. Aber hatte er nicht ein richtiges Bauernrennen (wohl eines der letzten, würde eine soziologische Feldforschung ergeben) gewonnen? Meinrat muss aber rückblickend gestehen, dass sein Sieg (in seiner Erinnerung ein Päckchen Manner-Schnitten als Preis) als jüngster Starter seinem Material geschuldet war: Während die Konkurrenten nur Haselnuss-Stecken hatten und teilweise in Gummistiefeln und in Riemenbindung fahren mussten, hatte er sich als verwöhntes «Nesthäkchen» neben den Markenschiern auch Schistöcke mit Teller, Schischuhe und eine Backenbindung erbettelt.

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Heuernte im Mostviertel des vorigen Jahrhunderts, als Meinrat noch «den Hut drauf haute.»

* Damals empfand Meinrat den Traum sehr unrealistisch bzw. absurd. Dass im Sommer 2016 eine Gelbe Anakonda tatsächlich im Siferlinger Badesee bei Rosenheim in Bayern herumschwamm, war nicht vorherzusehen.

** ZEIT-Dossier vom 27. 10. 2016: So glauben Forscher, könnte die Rettung des Weltklimas funktionieren.

Musikliste: Break on through to the other side von The Doors / Whiteout von Aber das Leben lebt / In the Dutch Mountains von den Nits / In the Summertime von Mungo Jerry / Textzeile aus dem Lied Bring mich auf Ideen von Garish / The Times They Are A-Changin von Bob Dylan

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