Schöne neue Weltvorstadt

Sechs mal sechs Meter: die Formel zum Glück

Zlín? Viele zucken bei Erwähnung dieses Namens nur mit den Schultern. Nie gehört! Dabei galt diese südmährische Stadt vor gut einem Jahrhundert noch als «modernste» Stadt Europas. Wir haben sie besucht.

Foto: Wenzel Müller

Schuhe aus Stoff, Gummi und Filz. Aus China, Afrika und Grönland. Aus dem Mittelalter, dem 19. Jahrhundert und der Gegenwart. Im Zlíner Stadtmuseum wird die ganze Breite und Vielfalt des Schuhwerks gezeigt. Eine imposante Schau mit immerhin über 600 Exponaten. Und zugleich ein trauriges Relikt. Denn wo heute Schuhe ausgestellt werden, wurden sie vormals produziert, ja, diese südmährische Stadt verfügte Anfang des vorigen Jahrhunderts mit dem Unternehmen Bata über die größte Schuhfabrik der Welt.

Zlín? Viele Freund_innen zucken bei Erwähnung dieses Namens nur mit den Schultern. Nie gehört! Dabei war diese Stadt, bloß einen Zwei-Tages-Radausflug von Wien entfernt, noch vor gar nicht so langer Zeit ein bedeutender Industriestandort. Und mehr noch: Sie galt als einer der modernsten Orte in Europa. Modern im Sinne von funktionalistisch. Le Corbusier, der bedeutende Architekt, nannte sie ein «leuchtendes Phänomen». Die Stadt der Zukunft, von der die Avantgarde in Paris und Berlin träumte, hier in Zlín schickte sie sich an, steinerne Wirklichkeit zu werden.

Doch der Reihe nach. Der Aufstieg von Zlín ist untrennbar mit einem Namen verbunden: Tomás Bata. Spross einer alteingesessenen Schuhmacherfamilie. 1894 beginnt er mit seinen Geschwistern die Schuhfabrik Bata in Zlín zu gründen. Der Ort zählt zu dieser Zeit 3000 Einwohner_innen. 1938 werden es 38.000 sein. Mit der Schuhproduktion steigt die Zahl der Einwohner_innen. Werden 1920 noch 8000 Paar Schuhe pro Tag hergestellt, sind es Ende der 1930er schon bis zu 200.000 Paar. Im Gleichschritt expandieren Fabrik und Stadt. Und der kleine Schuster steigt zum Lenker eines Weltkonzerns auf.

Was die Schuhherstellung betrifft, so setzte Bata auf neue Produktionsmethoden. Auf Fließbandarbeit und durchrationalisierte Arbeitsschritte. Auf Methoden der Autofabrikation, die er bei einem Aufenthalt in den USA kennengelernt hatte und, zurück in Zlín, in seinem Unternehmen umsetzte. Weg von der Handarbeit, hin zur Fließbandproduktion.

Rund um die Fabrikanlage breitete sich die Stadt in alle Richtungen aus. Eine klassische Fabrikstadt also. Wer sich Zlín allerdings wie Wolfsburg, die VW-Stadt in Deutschland, vorstellt, die_der irrt gewaltig. Denn viel eher erinnert dieser Ort an ein englisches Städtchen, damals wie heute. In den Wohnsiedlungen dominiert ein Bautyp: das zweistöckige Backsteinhaus, mit einem Garten drumherum. Very british. Manche mögen beim Anblick dieser streng kubischen Bauten mit Flachdach auch an eine Bauhaussiedlung denken.

Gemeinsam arbeiten, alleine wohnen. So lautete die Losung von Bata, der 1923 zum Bürgermeister von Zlín gewählt wurde. Spätestens ab diesem Zeitpunkt galt, dass das, was der Fabrik gut tut, auch der Stadt gut tut – und umgekehrt. Bata setzte in seinem Betrieb auf Ford’sche Produktionsmethoden, doch leben sollten seine Arbeiter_innen gut, in eigenen Häuschen, im Grünen. Arbeiter_innen- und Gartenstadt in einem.

Einerseits rationelle Arbeitsweise, andererseits hohe Lebensqualität. Tomás Bata: Kapitalist und zugleich Wohltäter. Oder eher Zwangsbeglücker? Bata baute mit solchen firmeneigenen Einrichtungen wie Schule, Krankenhaus, Kindergarten und Kino für seine Arbeiter_innen eine Rundumversorgung auf, wie sie der sozialistische Nachfolgestaat auch nicht besser (oder schlimmer) hinbekommen sollte. Die Arbeiter_innen wohnten in Bata-Siedlungen, kauften im Bata-Warenhaus, besuchten das Bata-Kino (damals das größte in Mitteleuropa) oder waren im Bata-Sportverein.

Die intendierte Einheit von Arbeit und Leben spiegelt sich noch heute im Stadtbild. In der einheitlichen Modulbauweise, in der sowohl Fabrik- wie auch öffentliche Bauten errichtet wurden. Als Grundform diente ein Stahlskelett in den Maßen 6,15 x 6,15 Meter. Die Module wurden in großer Zahl vorproduziert, vor Ort zusammengesetzt und seine Hohlräume mit Backsteinen ausgefacht. Das Ergebnis: streng geometrisch gegliederte Bauten mit Rasterfassaden – bis heute das architektonische Kennzeichen von Zlín.

Sechs mal sechs Meter: die Formel zum Glück. Dieses Maß weist auch die Aufzugskabine in der einstigen Zentrale des Schuhkonzerns auf. Die Zentrale gibt es nicht mehr, denn in den 1990er-Jahren wurde die Schuhproduktion in Zlín endgültig eingestellt und ins Ausland verlagert – Vertreibung durch die Nazis und Verstaatlichung durch den sozialistischen Nachfolgestaat hatten den Niedergang besiegelt -, in dem renovierten Gebäude ist nun die Regionalverwaltung untergebracht.

Die Aufzugskabine: ein Unikum, erhalten für interessierte Besucher_innen. Ein monströses Unikum. Denn diese Kabine, mit Schreibtisch und Waschbecken und einer Weltkarte ausgestattet, war so etwas wie ein mobiles Büro in der Blütezeit des Bata-Konzerns. Der Chef konnte jederzeit in einem der 17 Stockwerke (schon damals mit Klimaanlage ausgestattet) Halt machen und dort nach dem Rechten schauen, sprich: seinen Mitarbeiter_innen auf die Finger.

Der Chef war damals nicht mehr Tomás Bata, sondern sein Halbbruder Jan Antonín. Tomás Bata war 1932 ums Leben gekommen, abgestürzt mit seinem eigenen Flugzeug. Ihm zu Ehren wurde über der Stadt das sogenannte Tomás-Bata-Memorial errichtet, selbstverständlich im Standardmaß 6,15 x 6,15 Meter.

Ein transparenter Kubus, in dem ein Nachbau des Unglücksflugzeugs aufgehängt ist. Es muss einmal ein aufregender, avantgardistischer Bau gewesen sein. Doch heute sind die Scheiben nur noch matt. Aller Glanz ist dahin. Es ist Wochenende, und das Haus ist geschlossen. Die großartigen Tage von Zlín, die sind in der Tat vorbei.

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