Lokalmatadorin
Christine Wiplinger ist seit mehr als fünfzig Jahren ein echtes Vorbild – als Vorturnerin.
TEXT: UWE MAUCH
FOTO: MARIO LANG
Wenn alle da sind. Wenn alle mittun. Wenn alle lieb lachen. Dann weiß die Vorturnerin wieder einmal, warum sie sich das alles seit einer halben Ewigkeit antut. Und wenn sie dann auch noch einen süßen Elvis-Song einlegt, beginnen alle Mitwirkenden überhaupt, von ihren Matten abzuheben.
Christine Wiplinger hat Gefühl dafür, wie sie in ihren Kursen die Menschen für gut neunzig Minuten auf andere Gedanken bringen kann. Die 78-jährige Wienerin ist vor 66 Jahren in die Welt eines Atzgersdorfer Sportvereins eingetaucht, hat später dort einen Handballer kennengelernt, diesen geheiratet und sodann drei Handballerbuben zur Welt gebracht.
Der Sport hat sie auch beruflich immer begleitet: 35 Jahre lang, bis zu ihrer Pensionierung, hat Frau Wiplinger mit ihrem Mann das Gästehaus der ASKÖ auf dem Sportplatz gleich neben der Schnellbahnstation in Atzgersdorf geführt.
Mit Musik.
Eigentlich wollte sie ja Sängerin werden. «Doch da hat leider das Geld gefehlt.» Ihre Lehrer_innen hätten ihr durchaus Talent bescheinigt. Jedoch konnten sich ihre Eltern für sie weder den Besuch eines Gymnasiums («Das hat zu meiner Zeit noch gekostet») noch eine musische Ausbildung («Davon wagte ich damals nur zu träumen») leisten.
Es ist somit kein Zufall, dass Christine Wiplinger bis heute die Musik als ihre vertraute und wirkungsvolle Verbündete im Turnsaal einsetzt.
Ihr Vater, erzählt sie nach dem Turnen, hat als einer von nur ganz Wenigen die Schlacht um Stalingrad überlebt. Ironie des Schicksals, dank einer Krankheit: «Die Russen hatten ihn gefangen genommen, dann aber aus dem Straflager geworfen, weil er die Ruhr hatte. Er wurde von der Straße aufgelesen und mit dem letzten Flugzeug aus Stalingrad ausgeflogen.»
Nach dem Krieg mussten ihre Eltern darauf schauen, dass sie finanziell über die Runden kamen. Ihr Kind zu den schönen Künsten bringen? «Das war nicht drinnen.» Frau Wiplinger beschwert sich nicht. Denn auch der Turnverein, zu dem sie niemand bringen konnte, den sie als Kind ganz alleine ansteuerte, «konnte mir viel für mein Leben geben».
Viel hat die gelernte Industriekauffrau später mit ihrem Mann auch im Atzgersdorfer Gästehaus in der Steinergasse erlebt: «Wir waren dort von 1965 bis 2000. Ich habe täglich für die Sportler_innen gekocht. Und wir haben alle Zimmer in Schuss gehalten.»
Mit Schaudern.
Der Prager Frühling erst und der Fall des Eisernen Vorhangs dann sind ihr noch gut in Erinnerung: «Bei uns einquartiert waren immer auch Athlet_innen aus dem Osten Europas. Sie waren auf Trainingslager in Wien oder nahmen an Wettkämpfen teil.» Ab und zu nutzte eine Sportgruppe die Reise nach Atzgersdorf auch, um sich von hier aus «in den Westen» abzusetzen, wie man das zu Zeiten das Kalten Krieges nannte.
Mit Schaudern erzählt sie von jenen seltsam strengen Menschen, die selbst keinen Sport betrieben, dafür aber «ihr» Team nie aus ihren Augen ließen. «Ich kann mich noch an die Sportler_innen aus der DDR erinnern, die sich nicht getraut haben, beim Frühstück laut zu reden, und die sich auch über ihre Siege irgendwie nicht so gefreut haben.»
Auch österreichische Spitzensportler_innen waren in Atzgersdorf öfters zu Gast. Die Frau, auf deren Meldezettel 35 Jahre lang die Anschrift eines Sportplatzes vermerkt war, erinnert sich: «Der Gewichtheber Vinzenz Hörtnagl wohnte ebenso bei uns wie der Judoka Peter Seisenbacher.»
Mit Freude.
Drei Gruppen leitet Christine Wiplinger jede Woche an: Bis zu 40 Teilnehmende begrüßt sie in einem Schulturnsaal in Atzgersdorf, sogar 50 im Haus der Begegnung in Liesing und noch einmal zwölf bis 15 in Perchtoldsdorf. Mit dem Turnen schließt sich für sie ein Kreis, dem sie seit ihrer Kindheit immer treu geblieben ist.
«Ich habe schon als Kind mit Freude geturnt», erzählt die Pensionistin. Trotz ihrer Sehschwäche hat sie am Boden und auch an den Geräten gute Leistungen erbracht. Ihre Überzeugung, dass die Bewegung gut für die eigene Gesundheit ist, hat die Vorturnerin nie verloren. Sie selbst ist das beste Beispiel dafür: «Mit Ausnahme des Meniskus im linken Knie zwickt es bei mir nicht.»
Von den Volkskrankheiten Rückenschmerz, Diabetes, Übergewicht sowie Problemen mit Herz und Kreislauf blieb sie jedenfalls verschont. Vor ihnen warnt sie daher regelmäßig. Und weil sie immer mit gutem Beispiel vorangeht, gibt es nicht wenige Menschen, die sie im Laufe der Zeit vor gröberen Beschwerden bewahren konnte. Öfters hört sie von jenen: Vielen Dank dafür!