Es war einmal … eine Kattunfabrik in St. Pölten
Neue Job-Perspektiven im Textilbereich will die Kattunfabrik Flüchtlingen, Langzeitarbeitslosen und Haftentlassenen bieten. Chris Haderer (Text und Fotos) machte einen Fabrikrundgang.Kattun ist ein glattes, dichtes Baumwollgewebe, das von 1786 bis 1858 in der damaligen Textilmetropole hergestellt wurde. Seit dem Vorjahr gibt es in der niederösterreichischen Landeshauptstadt wieder eine Kattunfabrik, die gerade dabei ist, nach Wien zu übersiedeln. Allerdings ist sie kein klassischer Textilbetrieb, sondern eine Übungswerkstätte, die sich vorwiegend an Migrant_innen richtet, die aus ihren Heimatländern bereits Schneidereikenntnisse mitbringen – und zwar «zum Teil auf Meisterniveau», wie Jimmy F. Nagy, der Leiter des Projekts, betont. In der Kattunfabrik werden ihre Fähigkeiten perfektioniert, zusätzlich gibt es Sprachkurse, damit auch der Fachjargon perfekt sitzt. Angesprochen sollen sich auch Langzeitarbeitslose, Haftentlassene und Pensionisten fühlen, die nach einer sinnvollen Betätigung suchen.
Die Idee zur «neuen» Kattunfabrik hatte Jimmy F. Nagy angesichts der massiven Flüchtlingsströme, die Österreich in den letzten zwei Jahren erreicht haben. Nagy, damals selbst bei den Maßhosenschneidern Gebrüder Stitch beschäftigt, wollte den Ankommenden eine Möglichkeit bieten, ihre zum Teil desolate Kleidung zu reparieren – nach dem Motto: Hilf dir selbst, wir zeigen dir, wie. Die Parallele: Schon in der historischen Kattunfabrik stammten die Arbeiter_innen aus «aller Herren Länder», sagt Nagy. In der heutigen Kattunfabrik ist das, wenn auch unter anderen Umständen, genauso: «Viele Asylsuchende haben in ihren Heimatländern in der Textilbranche gearbeitet und sind sehr gut ausgebildet. Es fehlt ihnen aber oft an den nötigen Sprachkenntnissen, oder es werden ihre Fähigkeiten in Österreich nicht angerechnet.» Hier setzt die Kattunfabrik an: Nach Problemen mit dem Vermieter und aufgrund der nicht unbedingt ausländerfreundlichen Stimmung in St. Pölten ist die Werkstätte des Vereins vor Kurzem nach Wien in den Kunstkanal in den zweiten Bezirk übersiedelt. Dort wird jetzt heftig mit Schere, Nadel und Zwirn agiert, während die Sprachkurse vorerst noch in St. Pölten stattfinden. Ein Ausbildungsturnus umfasst 180 Stunden, und am Ende darf man als Schneider_in laut der österreichischen Gewerbeordnung arbeiten und hat – möglicherweise – auch Aussicht auf einen Job.
«Man kann davon ausgehen, dass etwa 30 Prozent der Leute, die zu uns gekommen sind, aus der Textilproduktion stammen», sagt Jimmy F. Nagy. Fünf junge Flüchtlinge machten in St. Pölten den Anfang: Sie reparierten ihre von der Flucht ramponierten Sachen und nähten sich neue Mäntel. «Und wie das so ist, wenn Leute beim Nähen zusammensitzen: Sie kommen ins Ratschen.» Dabei entstand dann die Idee, spezifische Sprachkurse anzubieten, um das Fachvokabular zu erlernen. «Das ist eine brutale Chance für Österreich, denn es kommen Leute, die ohnehin schon für Europa geschneidert haben und genau wissen, was hier getragen wird. Nur sind sie jetzt nicht mehr in irgendwelchen Sweatshops und lassen sich ausbeuten, sondern sind vor Ort.»
Anleitung zur Selbsthilfe
Der Kunstkanal in der Leopoldstadt, mit dem subventionsgerechten Untertitel «Verein zur Förderung disziplinärer Künste und Technologien», ist ein bisschen ein Schmelztiegel, der temporäre Arbeitsplätze für andere Vereine, Initiativen und Projekte anbietet. Im Gebäude, das stellenweise den Charme einer Baustelle hat, war beispielsweise bereits das «Let’s CEE»-Filmfestival beheimatet (das heuer Mitte März in Wien stattfindet). Zur Kattunfabrik führt eine schmale Treppe, gleich rechts vom Haupteingang. Oben ein mittelgroßer Raum, geheizt, ein paar Tische mit und ohne Nähmaschinen, Kleiderständer mit und ohne Kleidern, Regale mit und ohne Stoffen, Spiegel mit und ohne Bild, Gürtel, Krimskrams, Scheren und andere Schneiderutensilien; keine Kaffeemaschine – die befindet sich einen Stock tiefer im Gemeinschaftsraum des Kunstkanals, in dem auch geraucht werden darf. An einer Nähmaschine werkt Hajdari Mohamad Jawed, Flüchtling aus Syrien und Nichtraucher, an einer Pudelmütze für den Verein «Train of Hope», der ankommende Flüchtlinge am Hauptbahnhof Wien unterstützt. Er hat das Programm der Kattunfabrik bereits erfolgreich absolviert – wobei Jimmy F. Nagy großen Wert auf die Feststellung legt, dass es sich «um kein Hilfsprogramm handelt». Er präsentiert die Aktivitäten der Kattunfabrik eher als Selbsthilfeprogramm oder als eine Art Anleitung zur Selbsthilfe. «Die Kattunfabrik muss in der Lage sein, sich selbst zu erhalten, ohne Förderungen.»
Mit der europäischen Textil- und Bekleidungsindustrie ist es seit den 80er-Jahren des letzten Jahrtausends zielstrebig bergab gegangen: Alleine in Deutschland sind seit damals gut eine halbe Million Arbeitsplätze vernichtet worden. Die Produktion hat sich in Billiglohnländer verlagert – und nur noch knapp fünf Prozent aller in Deutschland hergestellten Textilien werden im Land erzeugt. Der Löwenanteil der Produktion kommt aus der Volksrepublik China, Indien, Bangladesch, Südkorea und Taiwan – Billigware, die sich lokal zu nicht annähernden Preisen herstellen ließe. Laut einer Studie der Arbeiterkammer gab es im Jahr 2013 in der österreichischen Textilbranche 8.221 unselbstständig Beschäftigte, was 2,2 Prozent der gesamten Industrie in der Alpenrepublik entspricht, bei einem Frauenanteil von 43,5 Prozent. Die Beschäftigungszahlen sind allerdings rückläufig und reduzieren sich laut den Zahlen der Statistik Austria im Jahresschnitt um etwas mehr als zwei Prozent. Es sind auch nicht unbedingt hochwertige Jobs, die geboten werden: Die Massenproduktion braucht nur wenige ausgebildete Spezialist_innen, die Mehrheit muss sich in Fließbandjobs verdingen. Man schneidet Teile mit Schablonen aus Stoffbahnen und näht sie mit sogenannten Overlock-Maschinen, bei denen man eigentlich nur noch den Stoff richtig halten muss, zusammen. Haben die Kattunfabrikant_innen in einem derartigen Umfeld überhaupt Chancen auf einen Job? Jimmy F. Nagy ist zuversichtlich: «Sehr viele Möbelhäuser leisten sich Änderungsschneider_innen», sagt er. «Und auch in den Ballungszentren gibt es viele Schneidereien.» Eine große Chance wittert Jimmy Nagy auch im ländlichen Raum: In den Dörfern seien in den letzten Jahrzehnten nämlich die Änderungsschneider_innen, die auch Reparaturen durchführen und Kleidern damit zu einem längeren Leben verhelfen, abhandengekommen. Ein erfolgreicher Kattunfabrik-«Absolvent» plane sich am Land selbständig zu machen und stünde kurz vor Eröffnung eines eigenen Ladens, sagt Jimmy Nagy.
Textile Nachhaltigkeit
Ein weiteres Ziel der Kattunfabrik sei es, sowohl «den Übenden als auch allen Menschen, die sich für das Projekt interessieren, ein Gefühl für Nachhaltigkeit und für faires und lokales Produzieren zu vermitteln», sagt Jasmin Bauer, die in der Kattunfabrik für die Öffentlichkeitsarbeit zuständig ist. «Man muss sich auch anschauen, wo das Garn und die Stoffe herkommen und wie sie hergestellt wurden. Wir versuchen vorwiegend mit Materialien zu arbeiten, die wir aus Spenden erhalten oder die biozertifiziert sind. Die Idee ist, einen großen Kreis zu schließen – und da gibt es natürlich auch viele Möglichkeiten, regionale Projekte zu unterstützen. Deshalb denke ich, dass sehr viele Jobmöglichkeiten in diesem Bereich vorhanden sind.» Das führt zurück zur Tatsache, dass die Kattunfabrik kein Hilfsprojekt ist, sondern ein Selbsthilfeprojekt, das sich von Spenden und Aufträgen erhalten soll. «Wir bieten keine Beschäftigung an, damit die Leute von der Straße weg sind, sondern wir wollen gemeinsam Zukunft auf Augenhöhe gestalten», sagt Jimmy F. Nagy. «Wir sagen nicht: Schau, das ist unser Flüchtling, der macht tolle Sachen. Nein, wir sagen: Das ist unser Kollege, und wir machen gemeinsam etwas Neues.» Dass man beim Betreten von Neuland auch Fehler macht, liegt auf der Hand, und «da geht es uns nicht anders. Wichtig ist, dass wir aus den Fehlern lernen.»
Offizielle Eröffnung der Kattunfabrik in Wien am 17. 3. (Kunstkanal, Ulrichgasse 1, 1020) mit Werkschau, Donationssale, Diskussion, Konzert sowie DJing.
www.kattunfabrik.at
Einen Radio-Augustin-Beitrag über die Kattunfabrik finden Sie unter: