Text: Sylvia Galosi
Zerstörend oder heilend – welche Mächte wohnen dem Schreiben inne? Wodurch erfährt das schreibende Selbst Macht und in welchen Formen drückt sich diese aus? Nicht nur Poet_innen, sondern auch wir, sollten nach Antworten suchen.
The thing about writing is, I can’t tell if it’s healing or destroying. Rupi Kaur
Das schöne Stichwort Poesietherapie beschreibt, wie Schreiben heilend wirken und die körperliche und seelische Gesundheit verbessern kann. Personen, die schreibend ihre tiefsten Gedanken und Gefühle erkunden, sind erwiesenermaßen positiver gestimmt und werden seltener krank (physisch und psychisch!). Wer schreibt, wird besser darin, eigene Emotionen und die Gefühle anderer zu erkennen und damit umzugehen und dadurch auch empathischer. Durch das Schreiben können belastende Ereignisse verarbeitet und Herz und Kopf – also Emotion und Verstand – miteinander verknüpft werden. Das lässt den Stress, der durch Verdrängung entsteht, abfallen. Wer eigene Gedanken, Gefühle, Visionen oder Erwartungen in Worte fassen kann, erhält ein gesteigertes Selbstwertgefühl und hat eher das Gefühl, etwas bewirken zu können. Je umfangreicher das interne Wörterbuch, desto größer die gedankliche Flexibilität. Und mit dem Wortschatz wächst der Schatz, aus dem man sich bedienen kann, um Strategien zu entwickeln, sein Leben zu meistern: «Today is where your book begins, the rest is still unwritten», wie im Hit Unwritten der britischen Singer/Songwriterin Natasha Bedingfield heißt. Schreiben bedeutet auch Erzählen, das Entwerfen von Geschichten. «Wir sind alle Geschichtenerzähler. Wenn man schreibt, schreibt man immer über sich selbst», erkennt die Schriftstellerin Doris Dörrie. So können wir schreibend unsere Biografie zusammenbasteln, wenn sie mal zerfranst ist und unser Lebensskript selbst editieren.
Sprache ist Macht. Innere Resilienz, die durch das Schreiben entfaltet wurde, kann sich zudem in äußere Macht transformieren. Denn Sprache ist Macht; sie entscheidet allzu oft über kulturelle und gesellschaftliche Teilhabe. Wenn ich es schaffe, mein emotionales Erleben nach außen zu tragen, verbessert das meine Kommunikationsfähigkeit, hilft mir, aus Isolation auszubrechen, soziale Probleme zu lösen und mich zu integrieren. Denn vom Schreiben profitieren vor allem Menschen, die ansonsten wenig soziale Unterstützung erfahren, denen selten Möglichkeiten geboten werden, ihren Gedanken und Gefühlen Ausdruck zu verleihen, oder die sie sonst unterdrücken (müssen, um zu überleben). Insbesondere wenn Texte der Außenwelt mitgeteilt und gemeinsam diskutiert werden. Somit ist auch das Teilen von (geschriebener) Sprache Macht. Oder um es mit den Worten der indisch-kanadischen Schriftstellerin Rupi Kaur zu sagen: «Poetry gave me a voice. By giving yourself permission to share a story, you are giving other people permission. Sharing experience creates solidarity.»
Geschichten von unten. Selbstermächtigung durch Schreibprozesse kann also dadurch entstehen, dass man sich selbst reflektiert und sich schreibenderweise von unterdrückenden Strukturen emanzipiert und mit Gleichgesinnten solidarisiert. Auch das Werkzeug des Schreibens ist nicht frei von der Klassenfrage, denn wer bestimmt, was erzählens-, schreibens- oder gar veröffentlichungswert ist? Geschichten von unten brauchen meist ein Sprachrohr, um gehört zu werden. Die subversive Power des Schreibens ist jedenfalls längst kein Geheimnis mehr. Nicht umsonst haben Karl Marx und Rosa Luxemburg das Recht, sich ästhetisch auszudrücken, in ihren Kapitalismuskritiken verankert. Nicht umsonst kanalisiert Schreiben über Ungerechtigkeiten Wut in etwas Produktives und fördert den Wunsch nach Lösungswegen. Nicht umsonst können wir uns über Geschriebenes unserer Werte bewusst werden und positionieren. Schreiben ist die einfachste Form der Kapitalismuskritik überhaupt: autonom, niedrigschwellig, man braucht nicht viel, kann es fast überall tun. Und indem man sich Zeit nimmt für etwas, das keinen Zweck erfüllen muss, rebelliert man schon gegen die Norm und bestimmt, was erzählenswert ist. Schreiben hat die Macht, das Selbst zu heilen und ungewollte Strukturen zu zerstören – wir sollten direkt damit anfangen.
Weiterführende Literatur:
Rupi Kaur: milk and honey | milch und honig, Lago 2017
Doris Dörrie: Leben, Schreiben, Atmen. Eine Einladung zum Schreiben, Diogenes 2019
Silke Heimes: Warum Schreiben hilft. Die Wirksamkeitsnachweise zur Poesietherapie. Vandenhoeck & Ruprecht 2012