Schule für alleBoulevard-Blog

Boulevard-Blog vom 11.01.2023

In Österreich gibt es eine Ausbildungspflicht für alle Jugendlichen bis 18. Jene mit Behinderung müssen ein 11. und 12. Schuljahr jedoch eigens beantragen – und immer öfter kommt es dabei zu Ablehnungen, vor allem in Wien. Zwei Familien haben nun die Republik geklagt und eine Bürgerinitiative gestartet. Nicht nur dieser Umstand zeigt, dass wir in Österreich noch weit von einer inklusiven Gesellschaft entfernt sind.

Mit Juli 2016 trat das österreichische Ausbildungspflichtgesetz in Kraft. Es soll sicherstellen, dass alle in Österreich lebenden Jugendlichen bis zur Vollendung ihres 18. Lebensjahres eine über die Pflichtschule hinausgehende Ausbildung abschließen können. In einem im selben Jahr herausgegebenen Dokument heißt es explizit, dass «im Sinne der Gleichstellung von Menschen mit Behinderung gemäß der UN-Behindertenrechtskonvention dieses Gesetz für alle Jugendlichen gilt, d.h. Jugendliche mit Behinderung nicht ausgenommen sind». Aktuell müssen aber eben jene um das Recht auf Bildung aktiv ansuchen – und 2022 wurde in Wien jeder dritte Antrag von der Bildungsdirektion abgewiesen.

Keine Zukunft im System

Karin Riebenbauer hat deshalb gemeinsam mit der Familie Mühlbacher eine Klage beim Verfassungsgerichtshof eingereicht. Die zweifache Mutter ist Elternvertreterin an einer Wiener Volks- und Sonderschule und kennt daher viele der Fälle: «Das betrifft nicht nur Jugendliche mit einer Behinderung, sondern auch viele mit Migrationsbiografie, die etwa traumatisiert sind. Oder auch Jugendliche, die in WGs aufwachsen. Sie alle fallen durch das Bildungssystem.»

Auch Karin Riebenbauers Sohn Anton wird es möglichweise so ergehen. Er ist 13 Jahre alt und Epileptiker, mit einhergehend ist eine Entwicklungsverzögerung. Die zwei kommenden Jahre kann er noch am sonderpädagogischen Unterricht teilnehmen – was danach kommt, ist bisher ungewiss. Karin Riebenbauer hat zwar ein 11., 12. und 13. Schuljahr für Anton beantragt, von der Bildungsdirektion kam aber prompt eine Zurückweisung. Das Ansuchen sei zu früh gestellt worden, so das offizielle Argument. Die fehlende Planungssicherheit sei ein großes Problem für Eltern und Kinder, meint Karin Riebenbauer. Die Familien bekämen oft erst im Juni Bescheid, ob ihre Kinder im September noch in die Schule gehen dürfen – in der Praxis eine enorme organisatorische und finanzielle Herausforderung.

Inklusion mobilisiert schwer

Um auf die Missstände aufmerksam zu machen, wurde Mitte Dezember ein Lichtermeer auf der Wiener Ringstraße veranstaltet. «Yes we care», hieß es 2022 in Bezug auf das Recht auf Inklusion. Laut eigenen Angaben kamen rund 5.000 Personen zu der Demo – 25.000 weniger, als im Jahr zuvor, als man unter selbigem Slogan noch zum Dank der Pflegekräfte und dem Gedenken an die Todesopfer während Covid auf die Straße ging. «Inklusion trifft auf den ersten Blick vielleicht nur eine kleine Gruppe. Ich bin aber davon überzeugt, dass es uns alle betrifft», sagt Daniel Landau, der Organisator der Demo. Besonders ein inklusives Bildungssystem liegt dem ehemaligen Gymnasiallehrer am Herzen – deshalb stand das Recht auf ein 11. und 12. Schuljahr für alle Kinder im Fokus der Veranstaltung.

Dass das Lichtermeer im Vergleich zum Vorjahr die Innenstadt nur wenig erleuchten konnte, erklärt sich Landau vorwiegend damit, dass am selben Abend das Finale der Fußball-WM stattfand. «Aber ja, Inklusion ist sicherlich ein Thema, das sich schwertut zu mobilisieren, weil viele auch keine Berührungspunkte damit haben.» Ein Grund mehr, für Inklusion zu kämpfen, denn Menschen mit Behinderung müssen sichtbarer werden. Von einer inklusiven Gesellschaft würden alle profitieren, da ist sich Daniel Landau sicher: «Genau deshalb ist es auch so wichtig, Menschen mit Behinderung Bildung und folglich einen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen.»

Damit die geltenden Gesetze auch umgesetzt werden, brauche es vor allem eines: Mehr Budget seitens des Bundes für die Bildungsdirektionen der Länder. Aber auch eine Anpassung des Lehrplans für Menschen mit Behinderung sei dringend notwendig: «Bisher ist der sonderpädagogische Lehrplan nur auf neun Jahre ausgelegt. Eine Lehrplanerweiterung ist daher essenziell, um ein 10., 11. und 12. Schuljahr für Jugendliche mit Behinderung zielführend zu ermöglichen.», erklärt Daniel Landau.

Menschen mit Behinderung sind wichtige Arbeitskräfte

Auch wirtschaftlich würde der Staat von einer Förderung junger Menschen mit Behinderung profitieren, stellt Karin Riebenbauer klar: «Wir haben uns das ausgerechnet: Es geht da um ungefähr 8.000 Euro, die der Staat pro Jahr pro Kind in die Schulbildung einzahlen müsste. Das ist nichts im Vergleich dazu, was gezahlt werden muss, wenn die Kinder aus der Schule kommen und nicht selbstständig leben können. Sozialunterstützung bis ans Ende des Lebens – das kann nicht das Ziel sein.»

Anton möchte übrigens DJ oder Kellner werden. «Er kann zwar nicht lesen und schreiben, aber das muss er in diesen Jobs auch nicht unbedingt. Er dürfte halt zum Beispiel nicht kassieren. Das hängt dann auch von der Arbeitgeberin/vom Arbeitgeber ab. Aber er könnte ein selbstbestimmtes Leben führen und sein eigenes Gehalt verdienen», erklärt seine Mutter. Aktuell ist es so, dass jene Jugendlichen, denen kein 11. und 12. Schuljahr* gewährt wird, entweder nur die Mindestsicherung bleibt (für den Behindertenzuschlag muss man volljährig sein) oder ein «Arbeitsplatz» in einer betreuten Werkstätte – wo man im Durchschnitt 70 Euro Taschengeld im Monat erhält. «Dazu kommt, dass man die Jugendlichen entweder zuhause bei den Eltern/Betreuungspersonen sitzen lässt oder sie wieder ausschließlich unter anderen Menschen mit Behinderung sind – und das ist nun mal keine Inklusion», stellt Karin Riebenbauer klar.

In Menschen mit Behinderung stecke viel Potenzial, da ist Daniel Landau überzeugt: «Bei der Ausbildung müssten halt vor allem die digitalen Themen ganz stark in den Vordergrund treten. Denn da gibt es einerseits ein enormes Lernpotenzial seitens der Schüler:innen, andererseits stellt die Digitalisierung auch sehr gute Hilfsmittel bereit, um Menschen mit Behinderung ihren Alltag zu erleichtern. Behindert ist schließlich, wer behindert wird. Und wenn man durch die heute verfügbaren Technologien den Menschen ihr Leben erleichtern kann, dann sollte man das auf jeden Fall auch finanzieren und unterstützen. In dieser Frage geht es oft um das Wollen, nicht um das Können.»

Viele EU-Länder machen’s besser

Dass es durchaus bessere Lösungen im Bildungssystem für Menschen mit sonderpädagogischem Förderbedarf gibt, zeigen Länder wie Schweden, Dänemark, Spanien oder Frankreich, so Karin Riebenbauer: «Generell ist Österreich, was Inklusion angeht, weit hinten im europäischen Vergleich. Bei uns ist es zum Beispiel üblich, dass Menschen mit Behinderung quasi unsichtbar bleiben. Sie werden morgens von einem Fahrtendienst abgeholt, in die Sonderschule oder Werkstätte gebracht und abends wieder nachhause gefahren. In anderen EU-Ländern wird viel mehr mit persönlicher Assistenz gearbeitet, so können auch Kinder und Jugendliche mit Behinderung gemeinsam mit einer Betreuungsperson öffentlich in die Schule fahren. Das macht einen großen Unterschied und schafft mehr Selbstständigkeit.»

Die Politik blockiert

Bis zu einem inklusiven Schulsystem ist es noch ein weiter Weg. In Österreich fehlt es aktuell vor allem an den finanziellen Ressourcen und passender Infrastruktur. Es fehlt an Schulplätzen, adäquat ausgebildetem Fachpersonal – und vor allem am Willen der zuständigen Entscheidungsträger:innen – das bestätigen gleich mehrere Initiator:innen und Aktivist:innen vergangener und aktueller Bürgerinitiativen. Vor allem die Stadt Wien ist überfordert, denn obwohl es hier mehr Kinder und Jugendliche mit Bedarf an sonderpädagogischer Betreuung gibt, erhält die Bildungsdirektion der Stadt ähnliche Gelder wie jene anderer Bundesländer. Über die Zurückweisung ihres Antrags meint Karin Riebenbauer: «Ich glaube ja auch nicht, dass die Beamt:innen der Wiener Bildungsdirektion mutmaßlich diskriminieren. Es fehlen hier lediglich die Ressourcen, die das Ausbildungspflichtgesetz eigentlich garantieren müsste.»

Genau deshalb rechnet man der aktuellen Klage am Verfassungsgerichtshof auch gute Chancen aus. Bis diese jedoch durchgeht, könnten noch bis zu drei Jahre vergehen. «Das war für uns der Grund, die Bürgerinitiative ins Leben zu rufen, um der Politik Druck zu machen. Mittlerweile zählen wir über 35.000 Unterstützende», sagt Karin Riebenbauer. Mit Spannung erwartet sie die kommende Woche. Beim anstehenden Finanzausgleich könnte auch eine Entscheidung im Sinne des Rechts auf Bildung fallen. «Wahrscheinlich wird es aber nur so was Halbes. Die ÖVP braucht im niederösterreichischen Wahlkampf jetzt halt eine positive Geschichte und da passt das ganz gut. Wir geben uns aber nur mit einer Lösung zufrieden: und zwar, dass man um das Recht auf Bildung nicht mehr betteln muss, sondern dass es jeder und jedem zusteht.»

Hier kann man die Bürgerinitiative «Recht auf Bildung für ALLE Kinder – Recht auf ein 11. und 12. Schuljahr für Kinder mit Behinderung» unterstützen und/oder eine Stellungnahme abgeben: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XXVII/AUA/AUA_00306/#tab-Uebersicht

Betroffene Familien können sich unter https://www.ichwillschule.at/ melden und vernetzen.

*Hinweis der Redaktion: Auch wenn es keinen sonderpädagogischen Lehrplan für ein 10. Schuljahr gibt, wird dieses in der Regel für alle Jugendlichen bewilligt.

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